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86 Tagebücher
ich kann es kaum erwarten nach constantinopel zu kommen, wo ich
doch wieder in der Welt bin. morgen Abends reise ich ab, durch 2 tage hat-
ten wir sturm und regen, daß das Wasser in diesen elenden häusern von
allen seiten hereindrang, heute beruhigt sich die see, und so hoffe ich auf
eine erträgliche fahrt.
ich habe in diesen tagen einen langen Brief an gustav lerchenfeld ge-
schrieben und mit ihm den gegenstand unserer vorjährigen münchener
unterredung abermals und, wie ich hoffe, entscheidend durchgesprochen.1
Alles und Jedes wird und muß sich nun bald entscheiden, und dieß ist ein
schritt dazu, in constantinopel wird ein Zweyter geschehen.
An Bord der Austria [vor Alexandrette] 20. April Abends
vorgestern 1/2 6 uhr nachmittag holte mich gödl ab und begleitete mich
an Bord des dampfbootes, in der Barke des capitains, der mich an Bord
empfing etc. Nachher kamen noch die Consulatsbeamten an Bord, mir
glückliche reise zu wünschen etc. Alles dieses machte viel Aufsehen und
verschafft mir viele complimente und langweile, doch hatte es die gute
Wirkung, daß mir, da keine damen an Bord waren, die frauencabine ein-
geräumt ward, in der ich mich vortrefflich befinde.
Gödl hat überhaupt unglaubliche Höflichkeit für mich gehabt und hat
(jedoch nicht in folge davon) mir bey näherer Bekanntschaft einen fast
in jeder Beziehung günstigeren eindruck zurückgelassen, freylich war ich
von Jerusalem aus sehr ungünstig gegen ihn eingenommen. Auch hier ist
unrecht auf beyden seiten.2
gegen sonnenuntergang fuhren wir bey ziemlich hohem meer und An-
zeichen eines sturmes von Beyrut ab und waren am anderen morgen gegen
8 in larnaca (cypern). nach dem frühstücke fuhren wir ans land, lange
fahrt, offene rhede, stürmisches meer, wobey mir ziemlich elend wurde.
dort angelangt, besuchten wir den englischen consul, gingen dann 1/2
stunde weit ins land, den salzsee (der im sommer austrocknet) anzuse-
hen, dann in die Bazaars etc. hier sah ich zum ersten mahle seit europa
fahrbare straßen und Bauernfuhrwerke, überhaupt hatte das ganze land
einen halbeuropäischen Anstrich, 350.000 einwohner, 3/5 griechen, 2/5
muselmänner. Alterthümer sollen bey Baffe (Paphos) und limasol, vene-
zianische bey famagosta seyn. nicosìa ist die hauptstadt.
die rückfahrt an Bord war grauenhaft, die see sehr bewegt, eine masse
scherzenden und tobenden gesindels in der Barke, und ich am Boden aus-
1 eine Abschrift dieses Briefes, datiert Beirut 14.4.1854, in k. 115, umschlag 666.
2 gemeint ist das gespannte verhältnis zwischen rudolf v. gödel-lannoy, generalkonsul in
Beirut, und dem vizekonsul in Jerusalem, giuseppe Pizzamano.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien