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Mai 1854
entschieden philhellenisch. Bruck ist außer sich und sprach mir neulich da-
von, daß er, wenn in dieser richtung beharrt würde, seine entlassung ge-
ben wolle. es ist bezeichnend und traurig zugleich, daß er, ein Preuße, und
Warrens, ein Amerikaner, die patriotischesten oesterreicher (letzterer we-
nigstens äußerlich, weiter vermag ich nicht zu urtheilen) sind, die ich ken-
ne.1 Bruck ist übrigens ein ausgezeichneter, in mancher Beziehung genialer
mann, voll rührigkeit und ideen und dabey ruhig und klar, er neigt etwas
mehr zu Rußland und ist etwas heftiger antienglisch als ich, sonst finde ich
viele Ähnlichkeit in seinen Ansichten mit den meinigen. sein hauswesen
hat einen nach meiner meinung etwas zu bürgerlichen Anstrich, aber er ist
von seiner ganzen umgebung geehrt und geliebt und scheint ein durchaus
vortrefflicher Mensch zu seyn.
der hohe griechische clerus hat die gesammte civiljurisdiction über die
11 millionen griechen der türkey, nach byzantinischem rechte, er ist da-
her ebenso mächtig als reich, der Patriarch in constantinopel (von dem die
Patriarchen in Jerusalem, Antiochien und Alexandrien unabhängig sind)
hat sowie diese eine synode von Bischöfen neben sich, an deren Beschlüsse
er gebunden ist, die er aber ernennt. er selbst wird durch die notabeln, wel-
che durch den logotheten (Advocatus ecclesiae) berufen werden, ernannt
und von der Pforte bestätigt. die Bischöfe beziehen den Zehnten und he-
ben nebstdem die landesfürstlichen steuern (karadj, Zehent etc.) ein und
führen sie an die Paschas ab. daher ist der hohe clerus ganz gut türkisch
und antirussisch gesinnt, was bey dem niederen clerus, der in Armuth und
ignoranz ist, nicht der fall ist. übrigens hat sich die nationalgriechische
Bevölkerung der türkey an Zahl, Wohlstand und Bildung seit den letzten
Zeiten sehr gehoben, für schulen etc. geschieht sehr viel durch freywillige
spenden etc. die slaven griechischer religion (d.i. die Bevölkerung ser-
biens, Bulgariens fast ausschließlich, Bosniens mit katholiken gemischt,
rumeliens mit griechen etc.), welche die mehrzahl jener 11 millionen bil-
den, sind in dieser Beziehung weit hinter den griechen zurück, neigen weit
mehr zu rußland und fühlen sich durch die suprematie der griechen, na-
mentlich durch die ausschließliche Wahl griechischer Bischöfe gedrückt,
gegen welche letztern sie auch schon mehrmals, von rußland unterstützt,
1 frh. karl ludwig v. Bruck war 1798 in dem seit 1815 preußischen elberfeld (heute Wup-
pertal) geboren und hatte an den kämpfen 1815 gegen frankreich in einem preußischen
regiment teilgenommen. 1821 übersiedelte er aus Bonn nach triest. der Journalist edu-
ard Warrens, geboren 1820 in hamburg, war jung in die usA ausgewandert. etwa 1845
kam er als us-amerikanischer konsul nach triest, begann dort für den österreichischen
lloyd zu arbeiten und wurde ein enger mitarbeiter Brucks. er übersiedelte mit dem „Jour-
nal des österreichischen lloyd“ (seit 1849 „der lloyd“), der seit 26.9.1848 in Wien erschien,
in die hauptstadt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien