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wegung herrscht. leider sind die orientalischen costumes fast ganz ver-
schwunden, was besonders Jemandem, der aus dem eigentlichen oriente
kömmt, wie ich, auffällt.
Bruck steht mit Baraguay auf einem ganz guten, dagegen mit redcliffe
auf sehr gespanntem fuße, man ist hier im hause überhaupt sehr antieng-
lisch und viel mehr preußisch, mitteleuropäisch und großdeutsch, als ich es
vertragen kann. Bruck legt übrigens mit recht fast noch mehr gewicht auf
den administrativen und commerciellen theil seiner mission als auf den
politischen und trägt sich da mit vortrefflichen Plänen, z.B. Organisirung
der hiesigen, 18.000 mann starken österreichischen nation etc., worin er
aber leider von Wien nicht unterstützt wird.
Ich hätte sehr gerne einen Ausflug über Brussa, Nicäa und Nicomedia
gemacht und den olymp bestiegen, aber die Zeit drängt, da ich am 3. oder
4. Juny in Wien seyn will und muß, andererseits habe ich das reisen und
sehen wirklich schon satt.
[konstantinopel] 16. mai
vorgestern fuhr ich mit ludolf, haymerle, Württemberg etc. nach scutari
hinüber. Wir wollten den Berg Bulkurlu besteigen, von dem man eine sehr
schöne Aussicht haben soll, es war jedoch so kalt und windig (wie über-
haupt hier bisher fast jeder tag das Widerspiel des vorhergegangenen war),
daß wir darauf verzichteten. Wir besichtigten die ausgedehnten Zeltlager
der Engländer (Highlanders 93, Rifles, ein paar Infanterieregimenter, Gre-
nadiere, Coldstream und Artillerie), magnifique Truppen, dann die meilen-
langen türkischen Begräbnißplätze voll Blumen, Bäume und cypressen,
gingen spatzieren etc., aßen kebab und eyer in einer schmutzigen türki-
schen restauration und fuhren dann bey ziemlich hoher see wieder heim.
Baraguay ist abberufen, und s. Arnaud versieht einstweilen den Bot-
schafterposten, ein triumph redcliffes, mit dem sich der haudegen nicht
vertrug. die dinge werden deßhalb um nichts schneller vorwärts gehen,
denn il y a impossibilité, mit 30.000 franzosen und 12.000 engländern,
die noch dazu hier und in gallipoli unbeweglich stehen, ist nicht viel anzu-
fangen, und die nachschübe gehen langsam und schwer, von den schwie-
rigkeiten der Verpflegung etc. ganz abgesehen. Die Russen sehen zu, ha-
ben übrigens die kleine Wallachey geräumt und stürmen jetzt silistria, ihr
vortheil liegt übrigens eben im Zuwarten. omer Pascha hat kaum mehr
100.000 mann, und davon einen großen theil krank, und leidet mangel an
Allem, die sache kann Jahr und tag dauern, auch mehr, und mittlerweilen
amalgamiren die russen die donaufürstenthümer, und das revolutionäre
Pulverfaß europa ist um so länger allen chancen einer plötzlichen explo-
sion ausgesetzt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien