Seite - 105 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 105 -
Text der Seite - 105 -
10523.
Mai 1854
diesen morgen früh waren wir in gallipoli und blieben ein paar stunden
da, um Waaren zu laden, während dem kam napoléon von constantinopel,
wahrscheinlich um den nunmehr beschlossenen Abmarsch der truppen
nach Adrianopel zu leiten, die ersten colonnen sind bereits abgegangen,
in gallipoli sollen nur 5.000 franzosen und eben soviele engländer (mehr
waren von letzteren wohl kaum dort) zurückbleiben. kaufmann reiser, der
eben von da nach constantinopel zurückkam, sagte mir im letzten Augen-
blicke, daß täglich truppen- und andere transporte der franzosen ankä-
men, daß er 5 verschiedene cavallerieregimenter dort gesehen habe, und
daß kanonen und train (alles der franzosen) in fülle da seyen, doch geht
es mit fourage und lebensmitteln schlecht und dürfte immer schlechter
gehen. im lande gibt es gar nichts, was sie haben, kömmt aus smyrna und
frankreich.
in gallipoli lagen 5 linienschiffe und eine masse dampf- und trans-
portschiffe, von diesen letzteren begegneten wir seither eine ganze flotte,
sardinische und französische, alle numerirt (höchste n. 132), leer zurück-
kehrend, und ein ankommendes dampfschiff mit truppen. das Alles segelt
jetzt in den dardanellen ein und aus, ohne complimente noch firman, und
natürlich thun es die schiffe aller andern nationen ebenso.
gegen 11 uhr kamen wir an Abydos und sestos, gleich darauf an den
dardanellenschlössern, wo der Pascha wohnt, vorüber, und wir 1/2 stunde
anhielten, vor einer stunde passirten wir die letzten forts des hellespont,
das schloß von Asien und das von europa, und sind nun in der nähe von
tenedos, gegenüber der sogenannten ebene von troja (?) wo die 3 grabhü-
gel des Ajax, Patroclus und Achilles zu sehen sind, so wie schon früher der
Ausfluß des Scamander, wäre die Beleuchtung günstiger, so könnte man
über lemnos hinaus den Berg Athos sehen. dagegen ist der ida auf der
asiatischen seite sichtbar. Bey diesem herrlichen Wetter eine entzückende
fahrt.
Weit entfernt die dobrudja geräumt zu haben, sind die russen über den
trajanswall (bey kostendje) gegangen. silistria ist eingeschlossen, jetzt
scheint also etwas entscheidendes vorgehen zu sollen. in eyub (constanti-
nopel) sind schon seit einiger Zeit casernen für die franzosen bereit.
napoléon wollte neulich auf einer spazierfahrt im Bosphorus einigen da-
men das schauspiel einer durchsuchung geben und ließ ein vorübersegeln-
des neutrales schiff anhalten und visitiren! eine Büberey und zugleich eine
insulte für die Pforte, beydes nichts neues.
Wie vorauszusehen war, beharren und vergrößern wir unsere fehler
griechenland gegenüber. es werden 3–4 schiffe nach den gewässern vor
epirus, thessalien, Athen etc. abgeschickt, um dort in gemeinschaft mit
den engländern und franzosen (von welchen letzteren 5000 mann in Athen
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien