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Tagebücher114
Am 4., Pfingstsonntag, früh fuhr ich weiter. Mrs. Norton, welche schon
seit laibach mit mir gereist war, fuhr bis Wien mit mir, sie begleitet ihren
sohn, der zur hiesigen gesandtschaft kömmt, eine sehr angenehme geist-
reiche Frau. Der Semmering ist unbegreiflicher Weise noch immer nicht
für den Personenverkehr eröffnet.1 in Baden erwartete mich flore, und
ich sprach sie einen Augenblick. um 1/2 6 Abends war ich hier. gabrielle
hatte mir eine meublirte Wohnung in der rauhensteingasse genommen,
und obwohl sie recht hübsch ist, war ich doch die ersten stunden ganz
desparat über die mancherley kleinigkeiten, die mir abgingen, und die ich
in einem hôtel allerdings bey der hand gehabt hätte. gabrielle kam bald
darauf zu mir, und ich brachte den Abend bey ihr zu. sie blieb auch noch
am folgenden tage bis Abends und kehrte dann in die Weilburg zurück, wo
sie wohnt.
hier ist schon beynahe Alles fort, das Wetter ist kühl, um nicht zu sa-
gen kalt, im übrigen wie immer, Alles beym Alten, die nämlichen men-
schen, dieselben leeren gespräche, es gibt keine stadt, die so einförmig,
beschränkt und spießbürgerlich ist wie Wien. der immer wahrscheinlicher
werdende krieg biethet einige, aber auch nur geringe Abwechslung und
redestoff, die alten Weiber und die sogenannte gute gesellschaft sind rus-
sisch, die ganze übrige stadt entschieden antirussisch, ebenso der hof und
die kaiserliche familie, sowenig man auch im Publikum daran glauben
will. Die finanziellen und materiellen Zustände sind trostloser als je. Ge-
werbe, handel und Börse liegen ganz darnieder, das Agio hält sich um
35, was auch nicht anders seyn kann, da der finanzminister diesen curs
als minimum festhält – !! – die Börse hofft auf eine kriegserklärung an
rußland und fürchtet im entgegengesetzten falle revolution und europä-
ischen krieg.
der kaiser ist in Prag und kömmt in 3–4 tagen zurück, ich wollte mich
um eine Audienz melden, doch wird vor dem 15., frohnleichnamstag, keine
ertheilt, ich muß also wenigstens so lange warten.
ich habe so eben überlesen, was ich im vorigen sommer während meiner
krankheit (welche mir immer mehr mysteriös erscheint, worüber ich nun
durch Wurm endlich Aufklärung erhalten will) in dieses tagebuch nieder-
schrieb, welch ein contrast zwischen jetzt und damals! Jetzt fühle ich mich
physisch und moralisch stark, dank meiner reise, damals war ich keines
von Beyden. die vorsehung hat mir geholfen, und sie mußte es, wenn ich
dem gewachsen seyn sollte, was ich jetzt zu unternehmen und durchzufüh-
ren habe. Jetzt bin ich es.
1 Während der reguläre güterverkehr über die semmeringbahnstrecke am 18.5.1854 aufge-
nommen wurde, fuhr der erste fahrplanmäßige Personenzug erst am 17.7.1854.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien