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11510.
Juni 1854
[Wien] 10. Juni
es ist hier kalt und regnerisch wie im october, was mir sehr unangenehm
ist, da ich hoffte, hier schon mein gewöhnliches Wiener sommerleben füh-
ren zu können, welches ich wenigstens auf einige Wochen so sehr liebe.
der kaiser kömmt erst in 3–4 tagen zurück und hat gestern in tetschen
eine Zusammenkunft mit dem könige von Preußen gehabt, welche, da bey-
derseits die minister des Auswärtigen dabey sind, jedenfalls auch politi-
scher natur war, der böhmische Adel, welcher überhaupt seit 1848 in der
niederträchtigkeit Allen übrigen voranleuchtet, hat sich dießmal wieder
durch glänzende schwanzwedeleyen ausgezeichnet, caroussels, feste etc.
dieses Benehmen ist ebenso würde- als taktlos.
im oriente kommen die dinge endlich in Bewegung, die russen erlei-
den bey silistria eine schlappe nach der andern. omer Pascha rückt von
schemlo aus ihnen entgegen. die franzosen und engländer stehen bey
varna und bey Adrianopel, in griechenland sind die franzosen meister
und der könig ihr willenloses spielzeug.
die allgemeine Praeoccupation im Publikum hier bilden gegenwärtig die
zu erwartenden großen finanzmaßregeln, man spricht von einer Zwangsan-
leihe von 500 millionen. der Augenblick scheint mir übel gewählt, um an eine
Wiederherstellung der valuta zu denken, der ökonomische ruin der nation
sowohl als des staates war nie so offenbar wie jetzt. Auch Wien hat auf mich
noch nie so lebhaft den eindruck des verfalles, des einschrumpfens gemacht
als dieses mahl, dieser geistlose, engherzige, kurzsichtige Absolutismus, der
uns seit 4–5 Jahren regiert, scheint sich selbst ad absurdum zu deduciren.
in meiner persönlichen Angelegenheit habe ich meine schritte damit be-
gonnen, daß ich zu Lanckoronski ging, der mich sehr höflich und verlegen
empfing, ich wollte nämlich, um mich nicht der Unannehmlichkeit einer
Abweisung auszusetzen, eine authentische interpretation darüber haben,
ob ich mich überhaupt zu einer Audienz beym kaiser melden dürfe oder
nicht? nachdem er lange den Wortlaut der an mich gerichteten verordnung
ponderirt hatte, meinte er, es sey allerdings dieselbe so zu verstehen, daß
mir nicht nur bey hofe, sondern auch bey seiner majestät zu erscheinen
verbothen, und ich würde daher sicherer gehen, mein Begehren um eine un-
tersuchung schriftlich anzubringen. übrigens sprach er viel dummes Zeug
und versicherte mich (als ob mich das etwas anginge), daß in künftigen ähn-
lichen Fällen immer auch der Betheiligte vorläufig gehört werden würde!
i answered with a sneer. ich habe denn heute ein ganz kurzes gesuch an
den kaiser gerichtet, worin ich um eine untersuchung und zugleich auch
um eine Audienz bitte, und dasselbe an lanckoronski zur überreichung
geschickt, und will diesen und allen meinen schritten in dieser sache die
größtmögliche Publicität geben. sie ist übrigens weniger bekannt, als ich
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien