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Tagebücher118
hier, wo jetzt Alles von persönlichen impulsen abhängt, einen umschwung
hervorzubringen. ich aber gelte hier, wo man überhaupt keine nuancirungen
versteht noch zuläßt, für einen stockengländer, oder vielmehr ich galt sonst
immer dafür, und jetzt betasten und befühlen sie mich, ob ich es noch bin.
[Wien] 29. Juni
nach einem 8monatlichen herumwandern that mir die unglaubliche ein-
förmigkeit und ruhe des hiesigen lebens Anfangs wohl, jetzt beginne ich
bereits, sie satt zu kriegen, obwohl ich für die nächste Zukunft nichts thun
noch unternehmen kann. meine Beschäftigung reducirt sich für den Augen-
blick lediglich aufs Warten, ob und wann und wie sich meine Angelegenhei-
ten entwickeln, seit ich, vor nun mehr als 14 tagen, mein gesuch an den
kaiser einbrachte, habe ich nichts weiter gehört, als daß lanckoronski mich
versicherte, dasselbe sey in den händen seiner majestät.
Allerdings ist der jetzige moment einer schleunigen entscheidung nicht
günstig, der bevorstehende krieg oder Quasikrieg, oder was sonst daraus
werden mag, absorbirt alle Aufmerksamkeit. hess ist generalenchef [sic]1
über beyde Arméen, die in Polen sowie die an der walachischen grenze, und
geht heute dahin ab. die russische Antwort ist noch nicht da, doch scheint
man ihren inhalt zu ahnen. die russen werden die Walachey, nicht aber die
moldau, wenigstens nicht ganz, räumen, sondern diese letztere räumung
von dem Abzuge der Alliirten und einem Waffenstillstande abhängig zu ma-
chen suchen, worauf aber weder england noch frankreich eingehen wer-
den. Wir werden dann die Wallachey besetzen, und was weiter geschieht,
wissen die götter, es können und werden noch sovielerley incidenzfälle
eintreten, daß sich nichts berechnen läßt. unter unserer generalität und
der sogenannten Arméearistocratie (generalstab, cavallerie etc.) herrschen
große russische sympathieen, schlick ist der unüberlegteste Wortführer der-
selben, und sie wollen noch Alle an einen krieg nicht glauben. dagegen ist
erzherzog Albrecht ganz antirussisch. es scheint mir ganz möglich, daß wir
wieder einmahl die dümmste Parthie ergreifen, die eines gemäßigten fein-
des, und es dadurch mit beyden theilen verderben. soviel ist bis jetzt gewiß,
daß wir es mit rußland, dem wir bloß durch unsere unentschiedene stellung
bereits zehnmahl mehr geschenkt haben als die 3 anderen mächte, unwi-
derbringlich verdorben haben. übrigens werden uns, es mag kommen wie es
wolle, die donaufürstenthümer ein für alle mahl zufallen.
das Zwangsanlehen scheint aufgegeben, man will das letzte Pulver noch
nicht verschießen, nun spricht man von allerley finanzmaßregeln.2
1 général en chef – kommandierender general.
2 die schließlich am 20.7.1854 zur subskription aufgelegte nationalanleihe war zwar formal
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien