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Juli 1854
vorgängen rußlands gegen die türkey, der Alliirten gegen griechenland
etc. Ja dieser rost frißt noch tiefer, unsere regierung scheint sich nun dar-
auf zu verlegen, die Juden zu überjüdeln, schließt bey den gegenwärtigen
lieferungsverhandlungen mit jedem einzelnen offerenten für die ganze
offerirte Quantität ab, bezahlt nicht oder spät etc. der „eifer im dienste“
ersetzt Alles Andere, am leichtesten aber die redlichkeit.
[Wien] 12. July
die dinge gehen immer krauser. gortschakoff ist eingetroffen, die russische
Antwort so abweisend und impertinent wie möglich, sie fordert unter andern
dingen die nichtausführung der convention mit der Pforte wegen Besetzung
der fürstenthümer!1 Preußen, diese elende „zweyte deutsche großmacht“,
intriguirt und agitirt hier auf Annahme der russischen Propositionen, ich
hoffe, es wird nicht durchdringen, doch ist für den Augenblick allerdings ein
stillstand eingetreten, der entscheidende moment ist da, und die entschei-
dung selbst hängt an einem faden, die räumung der Walachey ist sistirt,
im gegentheile haben die russen viele schon geräumte Positionen wieder
bezogen und nehmen eine immer drohendere und feindseligere stellung an
unseren grenzen an. Aber es wird hoffentlich hier heißen: bange machen gilt
nicht. Auf diese persönlichen gefühle des kaisers baue ich meine hoffnung,
sonst auf nichts. das sieht er freylich nicht ein, daß er am ende weder für
sich, noch für sein system arbeitet, indem er sich von rußland lossagt. die
kugel kömmt ins rollen, schon spricht man von concessionen im innern,
berathenden Ausschüssen etc. Bedeutend wirkt auch in dieser richtung das
so eben erschienene freywillige (also nicht Zwangs-) nationalanlehen, wo-
durch die valuta al pari gebracht und das Deficit der nächsten Jahre bedeckt
werden soll. da aber der jetzige Arméestand allein circa 1 million täglich
kostet (im may, wo noch die neue stellung nicht vollzogen war, 23 millio-
nen), so wird das, zu dem laufenden Deficit hinzugerechnet, wohl die ganze
Anleihe absorbiren, übrigens werden alle möglichen erlaubten und unerlaub-
ten mittel in Bewegung gesetzt, um die getreuen unterthanen möglichst zu
schrauben und ihnen den letzten kreuzer abzupressen, so daß für ein etwa
nachkommendes Zwangsanlehen, welches man als Aneiferung im hinter-
grunde schimmern läßt, kaum etwas erübrigen wird. kurz man hat den letz-
ten trumpf ausgespielt, und auch der wird nicht auf lange helfen.
ich besuche manchmal mrs. norton, eine sehr interessante frau, neulich
war ich in Baden und sah da mad. oustinoff, vor einigen tagen hatte ich ein
1 Der Vertrag vom 14.6.1854 verpflichtete Österreich, alle Mittel anzuwenden, um Russland
zur räumung der donaufürstentümer zu bewegen, dagegen erhielt es das okkupations-
recht in den fürstentümern bis zur Wiederherstellung des friedens.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien