Seite - 128 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 128 -
Text der Seite - 128 -
Tagebücher128
[Wien] 23. August Abends
ich bin heute mit olga oustinoff von Baden zurückgekehrt und habe sie
auf die nordbahn begleitet, auf welcher sie um 7 Abends nach dresden
abgereist ist, wo sie mit ihren Ärzten consultiren und dann entweder in die
seebäder von ostende oder sonst wohin gehen wird.
der roman wäre sohin vor der hand zu ende, denn es war ein roman, und
zwar ein ernsthafterer geworden, als ich es mir vor noch kurzer Zeit hätte
träumen lassen, zugleich aber ein solcher, welcher mich trotz der leere,
welche ihre Abreise jetzt in mir zurückgelassen hat, erquickt, erfrischt
und gestärkt hat und hoffentlich noch weiter in mir fortvibriren wird. ich
habe seit clotilde lottum’s Zeiten keine frau gekannt, welche mich so sehr
gefesselt hat und noch mehr fesseln könnte als sie, wie ein angenehmer
champagnerrausch, geradeso wie ich es brauche und wünschen würde, um
mir das leben angenehm zu machen. Was mir noth thut und mir täglich
unentbehrlicher wird, ist eine geistreiche, leichthin gleitende frau, welche
meinen geist anregt, mir die frische und heiterkeit des humors erhält und
nebstdem durch ihre äußere erscheinung meinem tiefgewurzelten Bedürf-
nisse nach eleganz und meinem schönheitssinn wohlthut. Alles dieses ist
bey olga in einem hohen grade der fall, und wäre ich gewiß, daß sie mit
diesen eigenschaften auch die fähigkeit vereinigt, eine dauerhafte liebe
oder wenigstens warme Anhänglichkeit für mich zu empfinden, so wäre
meine Wahl getroffen, und ich hätte dann ein festes Ziel für manches ge-
funden, was jetzt in mir noch vag durcheinander läuft. ob dieses der fall
ist? wird die nächste Zeit darthun. gewiß ist, daß sie unter jener vorausset-
zung für mich die wünschenswertheste frau wäre, welche mir seit lange,
vielleicht überhaupt, vorgekommen ist. ich bin nicht der mann, und meine
richtung und mein Beruf sind nicht von der Art, um eine gemüthstiefe,
schwerfällige, secundäre frau zu würdigen.
die verschiedenen Peripetieen in meinem verhältnisse zu ihr zu be-
schreiben, wie sie sich in diesen letzten 3–4 Wochen entwickelt haben, dazu
ist hier nicht der ort, ich glaubte Anfangs, in ihr eine gewöhnliche (bis
auf ihren wirklich eminenten Verstand) Frau aus der großen Welt zu fin-
den, und stieß auf ein wundes, beynahe gebrochenes herz, gebrochen durch
eine lange unglückliche ehe, manche verluste, physische leiden, durch das
gefühl des Alleinseyns und am meisten durch eine unglückliche liaison,
deren Bruch ihrem stolze wahrscheinlich noch weher gethan hat als ihrem
herzen, kurz auch in diesem eine auffallende Ähnlichkeit mit clotilde lot-
tum, vielleicht entwickelt sie sich dann auch in ähnlicher Weise, vielleicht
noch ernstlicher, denn sie ist Wittwe und ich bin 40 Jahre alt.1
1 Gräfin Olga Oustinoff (Ustinov), geboren 1820, eine Schwester von Andrians Bekanntem
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien