Seite - 131 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 131 -
Text der Seite - 131 -
1315.
September 1854
meine größte ressource hier ist jetzt mrs. norton, welche ich sehr viel
sehe und beynahe alle Abende bey ihr zubringe, durch die stupide leiden-
schaft ihres söhnleins ist ihr die rückkehr nach Baden verleidet, wozu sie
sonst so große lust hätte. ich begleite sie öfters auf spaziergängen etc.,
so waren wir neulich in schönbrunn und wollen morgen miteinander die
Staatsdruckerey ansehen. Jeden Augenblick finde ich einen oder den an-
dern durchreisenden engländer, meistens leute, die in irgend einer Art
markante leute sind, bey ihr. ich bewundere in ihr hauptsächlich die en-
ergie und das geschick, womit sie sich gegen die Welt und gegen mannig-
faches unglück gewehrt und es verstanden hat, sich nicht nur zu behaup-
ten, sondern sogar eine ganz ausnahmsweise stellung zu erringen. diese
engländer sind von stahl und eisen, es ist aber nicht leicht ein größerer
contrast denkbar als zwischen ihr und olga ustinoff, daher auch gegen-
seitige Abneigung trotz aller scheinbaren freundschaft, jene bemerkbarer
bey mrs. norton als bey olga, wäre ich eitel, so würde ich sagen, weil die
letztere sich des vorzuges, welchen ich ihr in meinem herzen einräumte,
vollkommen bewußt war.
dieser vorzug hindert übrigens nicht, daß ich auf mrs. n.’s Freundschaft
ein noch größeres gewicht lege als auf vieles Andere, nicht nur ihrer un-
endlich liebenswürdigen Persönlichkeit wegen, sondern auch noch aus an-
deren, mehr business-like ursachen, sie steckt nämlich in der regierenden
coterie ihres vaterlandes mitten innen.
heute erhielt ich einen Brief von olga aus dresden, sie geht nach ost-
ende.
Politisch nichts neues, nun scheint es, daß schweden den Westmächten
beytreten dürfte.
ich erhalte jetzt eine menge Briefe von allen möglichen österreichischen
consuln und consulatsbeamten aus dem oriente, welche ich während mei-
ner reise kennen lernte, die armen teufel sind froh, der eine aus diesem,
der andere aus jenem grunde, sich an mich anklammern zu können, meine
Position ist doch eine sonderbare, es ist den leuten der glaube nicht zu
nehmen, daß ich ein „mächtiger“ mann sey – ! – neulich meldete mir Pizza-
mano die niederkunft seiner frau.
[Wien] 5. september
seit 5–6 tagen haben wir das herrlichste Wetter, wie gewöhnlich scheint
der herbst die schönste Jahreszeit werden zu wollen, wie hat sich das clima
seit 20 Jahren geändert! der Winter dauert bis in den Juny, dagegen der
herbst bis zum december.
ich war neulich bey gabrielle in der Weilburg, ohne Baden zu berühren,
und machte mit ihr eine herrliche Parthie nach meyerling. heute war ich
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien