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Tagebücher134
ich bin seit vorgestern, da ich in meiner Wohnung in der rauhenstein-
gasse nicht mehr bleiben konnte, auf die paar tage ins gasthaus zur unga-
rischen krone gezogen. morgen oder übermorgen gehe ich nach Baden, wo
ich einige tage zuzubringen gedenke, da mrs. norton, deren sohn an seinen
neuen Bestimmungsort Paris abgegangen ist, vor ihrer Abreise nach italien
noch eine kurze Zeit daselbst zubringen will. ich habe aber weder ein in-
teresse noch eine Beschäftigung, die mich in dieser langweiligen stadt zu-
rückhielte, da ich ohnehin meine Zeit größtentheils und meine Abende ohne
Ausnahme bey ihr zubringe. sie ist eine feine erfahrene Beobachterinn,
ganz geeignet, die politische mission zu erfüllen, welche sie ohne Zweifel
hat, obwohl ich sie für keine eigentliche femme politique halte, selbst über
meine eigene stellung hier habe ich durch sie manches erfahren, was ich
nicht wußte oder wieder vergessen hatte. ich sehe, daß man auf mich noch
aufmerksamer ist, als ich es glaubte, und daß ich nur freunde oder feinde,
aber keine gleichgültigen Zuschauer habe. tant mieux, übrigens nimmt
mein verhältniß zu ihr ohne mein Zuthun, ja eigentlich gegen meinen Wil-
len nach und nach die tournure einer liaison, so daß es eigentlich ganz gut
ist, daß sie in 8 tagen abreisen will und muß, es ist eine delicate sache, und
ich habe alle möglichen ursachen, vor Allem aber die meiner aufrichtigen
freundschaft für sie, mit ihr auf bestem fuße zu bleiben. Wie gesagt, es ist
mein Altenweibersommer, und ich komme mir zuweilen beynahe lächerlich
vor, ich hatte diese dinge schon fast verlernt.
olga [ustinov] schrieb mir gestern aus ostende, wo sie die Bäder braucht.
die russen räumen die moldau, der dießjährige feldzug scheint mit
Ausnahme der unternehmung gegen sebastopol beendet, diese letztere ist
eben im Beginnen, die flotten verlassen das baltische meer, von unserer
seite wird über die Besetzung der moldau in diesem Jahr nichts weiteres
geschehen, um so thätiger wird die diplomatie im Winter seyn, nament-
lich wird die sprengung der englischfranzösischen Allianz versucht werden
und, wie ich fürchte, nicht ohne möglichkeit des erfolges, die spanischen
Angelegenheiten und der character louis napoléons bieten den russen
chancen genug, dann wären wir die gefoppten.
troyers und die gute tante lotty [fünfkirchen] sind von ischel zurück,
onkel franz sterbend.
[Wien] 27. september
Am 14. ging ich nach Baden. mrs. norton kam, durch verschiedenerley
dinge aufgehalten, erst am folgenden tage, und wir brachten dort, durch
das herrliche, wahrhaft sommerliche Wetter begünstigt, drey sehr ange-
nehme tage zu mit spazierengehen, fahren etc. die Wendung, von der ich
neulich sprach, ist entschieden eingetreten, ohne mein Zuthun und durch
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien