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wahrscheinlicher, daß kaiser nicolaus den krieg, den wir de facto schon
lange gegen ihn führen, nun uns auch erklären wird. Auch mit Preußen
scheint es nach und nach zu einem Bruche kommen zu sollen und damit
zu einem noch nicht zu berechnenden risse in den deutschen Bund, wobey
wir, wenn wir geschickt operiren, große vortheile ernten können.
die Alliirten sind in der crim gelandet und rücken auf sebastopol, aller
Augen sind dahin gerichtet, und man erwartet jeden Augenblick einen ent-
scheidenden schlag.
ehe ich nach Baden ging, machte ich durch morier die Bekanntschaft des
berühmten Philologen max müller, Professor in oxford, eines sehr ausge-
zeichneten mannes, er kam eben von heidelberg und erzählte mir, gagern
& c. seyen voll hoffnung und guter dinge. diese leute sind doch mit un-
glaublicher Blindheit geschlagen.
ich lese jetzt mit dem allergrößten interesse g. diezl’s verpöntes Buch:
deutschland und die abendländische civilisation,1 er stellt das Princip der
individuellen freyheit, somit Aristokratie und Protestantismus als ein aus-
schließlich germanisches dem romanisch katholischen des Absolutismus
der staatsidee (ob nun in constitutioneller oder rein monarchischer form),
welches consequent zum communismus führt, ja eigentlich nichts anderes
ist als dieser selbst in einer noch nicht entwickelten gestalt, entgegen und
erblickt in diesem Zwiespalte und kampfe ganz richtig die ganze frage
des Jahrhunderts. franzosen und russen gelten ihm beyde als die träger
des letzteren Princips. trotz mancher confusion in den Anschauungen, na-
mentlich in Beziehung auf die historische durchführung in deutschland ist
es ein excellentes Buch und stimmt ganz mit meinen Ansichten überein,
daß der Absolutismus als staatsidee in jeder form die Wurzel ist, an die die
Axt gelegt werden muß, um unsere verkrüppelte generation zu erziehen.
freylich hängt das innig mit der religiösen frage zusammen, daher auch
mit meinen wildest dreams, soviel ist gewiß: catholicismus, wenigstens bey
uns, ist synonym mit hundsfötterey, niederträchtigkeit und entartung.
[Wien] 30. september
vorgestern hatte ich Audienz beym kaiser und erschien als gevatter
schneider im schwarzen frak, unter all den gesternten und gestickten
herrn jedenfalls ein contrast. Auch mußte ich sehr lange warten, bis an
mich die reihe kam, während mich der kaiser sonst immer sehr bald vor-
gelassen hatte. Seine Majestät empfingen mich mit einem halb verlegenen,
halb ungnädigen gesichte, wodurch ich mich jedoch nicht irre machen ließ,
1 gustav diezel (sic), deutschland und die abendländische civilisation. Zur läuterung unse-
rer politischen und socialen Begriffe (stuttgart 1852).
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien