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September 1854
sondern meine rede ganz ruhig, ernst und gemessen ableyerte, Anfangs
von meiner persönlichen lage sprechend und dann zu den allgemeinen po-
litischen fragen übergehend, zugleich übergab ich ihm ein mémoire, wel-
ches ich bereits in constantinopel ausgearbeitet und seitdem entsprechend
abgeändert hatte, eine darstellung meines bisherigen politischen lebens
enthaltend.1
der kaiser schien ziemlich aufmerksam zuzuhören, der zweyte theil
meiner rede aber schien nur wenig eindruck zu machen, es fehlt, wie ich
immer vermuthete, die erregbarkeit und empfänglichkeit, trotz seiner
Jugend, das zeichnet den menschen, am schlusse versprach er mir, das
mémoire zu lesen und mir in einigen tagen seine Antwort zukommen zu
lassen.
ich schrieb nun gestern an grünne um eine unterredung, ich wünsche,
daß er den kaiser auf einige Punkte besonders und wiederholt aufmerksam
mache, namentlich aber seine gedanken auf eine diplomatische verwen-
dung hinlenke.
ich glaube beynahe, daß man mir Anträge machen wird, von welcher Art
diese seyn werden? kann ich freylich nicht sagen.
heute kam die nachricht von einer niederlage der russen vor sebasto-
pol und zugleich eine andere, jedoch nur gerüchteweise, von der einnahme
dieser festung, letztere nachricht wird sich wohl, wenn sie auch jetzt ver-
früht seyn sollte, bald bewahrheiten, ein ungeheueres ereigniß nach einem
feldzuge von kaum 10 tagen!2 rußland ist tief gedemüthigt, und gortscha-
koff wird nun wohl Bessarabien räumen müssen, der friede aber ist ent-
fernter als je.
Bey uns drängt die finanznoth trotz des sogenannten gelingens der na-
tionalanleihe (welche aber leichter subscribirt als gezahlt seyn wird) immer
mehr, die kosten der Armée, die ungeheuer gestiegenen Preise der lebens-
mittel etc. man unterhandelt jetzt sogar mit ausländischen gesellschaften
wegen verkaufes oder verpachtung auf 99 Jahre der staatseisenbahnen,
nur um eine große summe auf einmahl in die hand zu bekommen!
mrs. norton’s mémoire über ihr leben, womit sie eine reform der engli-
schen ehegesetze beabsichtigt (die Bill sollte schon im letzten Parlamente
eingebracht werden, unterblieb aber wegen des krieges), wovon sie mir ei-
nen Abdruck hinterließ, interessirt mich sehr, der schreiberinn und des
Zweckes halber, noch mehr aber, weil es einen tiefen und wohlthuenden
Blick in die englischen verhältnisse thun läßt, wo der Privatthätigkeit ei-
1 vgl. zu einem wahrscheinlichen konzept dieses mémoires eintrag v. 22.7.1854.
2 entgegen diesen ersten meldungen wurde die festung sebastopol erst im september 1855
nach fast einjähriger Belagerung eingenommen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien