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Oktober 1854
ist hier, jedoch noch ziemlich schwach, dennoch fürchten und flüchten sich
viele leute.
Wir haben neulich die großartigste Mystification der Welt erlebt, am 2.
kam von Bukarest die telegraphische nachricht von der einnahme seba-
stopols auf die mündliche Aussage eines tartaren. graf Buol theilte sie so-
gleich officiell mit und ließ sogar in Paris im Nahmen des Kaisers gratuliren,
was natürlich der Moniteur sogleich coi fiocchi mittheilte. Tags darauf zeigte
sich, daß die ganze geschichte erfunden war, diese bévue wird Buol und
von rußland uns überhaupt nachgetragen werden.1 übrigens ist sebastopol
eingeschlossen und dürfte bald fallen, doch ist damit die crim noch nicht er-
obert, da menzikoff sich täglich verstärkt. es sammeln sich große russische
heeresmassen in Polen bey kalisch und Warschau, offenbar gegen uns.
[Wien] 14. october
das Wetter ist meistentheils schön, wenn auch einzelne nebeltage dazwi-
schen vorkommen, dagegen aber schon empfindlich kalt, beynahe winter-
lich. die cholera ist ziemlich bedeutend und eher im Zunehmen begriffen,
wiewohl man dieses im Anfange verheimlichen wollte.
in Betreff meiner Angelegenheit nichts neues und überhaupt nichts vor-
gefallen. Auch politisch ist im laufe dieser Woche nichts Wesentliches vor-
gefallen. details über die schlacht an der Alma und erwartung des falles
von sebastopol, das war Alles. mit Preußen werden unsere Beziehungen
täglich gespannter, mit rußland sind sie bereits auf dem äußersten Punkte
angelangt. hess wird nächstens hier erwartet und dürfte wahrscheinlich
wieder eine seiner großartigen truppenverschiebungen auszuführen ha-
ben, dießmal an die mährisch-polnisch-russische grenze, denn es wäre gar
nicht unmöglich, daß es mit rußland bald, noch vor dem frühjahre zum
klappen käme.
mrs. norton ist hier und macht mir den mund nach venedig wässern, lei-
der bleibt sie nur ein paar tage hier, um sodann über Paris nach england
zurückzukehren.
[Wien] 19. oktober
vorgestern Abends ist mrs. norton abgereist, für mich ein kaum zu erset-
zender verlust, besonders in diesem Augenblicke. eine so welterfahrene,
1 der österreichische gesandte in Paris, frh. Josef Alexander von hübner, schrieb dazu in
seinem tagebuch am 4.10.1854, „daß der tartar, der diese nachricht zuerst nach Bukarest
brachte, einfach gelogen habe. das merkwürdige bei der sache ist, daß die österreichische,
französische und englische regierung, ohne hierüber eine Bestätigung erhalten zu haben,
daran glaubten.“ neun Jahre der erinnerungen eines österreichischen Botschafters in Pa-
ris unter dem zweiten kaiserreich 1851–1859. 1. Bd. (Berlin 1904) 156.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien