Seite - 140 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 140 -
Text der Seite - 140 -
Tagebücher140
geschäftskundige frau und feine Beobachterinn und menschenkennerinn
werde ich wohl kaum wieder finden, am wenigsten aber eine, die mit sol-
cher theilnahme und liebe (car c’est le mot) an mir hängt. von Jugend
auf in der intimität der ersten englischen staatsmänner und mitten im
centrum der geschäfte aufgewachsen, war ihre erfahrung und ihr rath
von dem allergrößten Werthe für mich, obwohl sie weder die hiesigen noch
meine persönlichen verhältnisse genau kannte.
Wie ich beynahe von Anfang an ahnte, hat mein verhältniß zu ihr eine
ganz sentimentale, beynahe leidenschaftliche richtung genommen, bey
ihr war es ein ununterbrochener heftiger innerer kampf, den nur der voll-
kommen begreift, der den englischen character und ihre enthusiastische
poëtische natur genau kennt. es liegt aber ein großer Zauber darin, sich
von einer edlen, ausgezeichneten frau geliebt zu wissen, selbst wenn man
dieses gefühl in seiner ganzen heftigkeit im Anfange nicht theilt. ich fühle
mich jetzt unglaublich allein, da ich gewohnt war, mit ihr von Allem und
über Alles zu sprechen was mich interessirte, und meine geheimsten ge-
danken ihr nicht zu verbergen, das war der große unterschied zwischen
ihr und olga ustinoff, daher ist sie mir auch viel mehr zum Bedürfnisse
geworden als diese, von der ich übrigens Briefe über Briefe erhalte.
gestern war ich in Baden, um gabrielle zu besuchen, die treue seele, zu der
ich immer wieder zurückkehre, wenn mir etwas schwer auf dem herzen liegt.
Jetzt sitze ich hier und warte, wie lange noch? ich wünsche sehnlichst,
bald eine entscheidung zu haben, denn die langweile der hiesigen existenz,
die herbstliche Jahreszeit, Alles macht mich ungeduldig und mißmuthig.
[Wien] 22. october
die dinge werden immer krauser und confuser, und es zeigt sich täglich evi-
denter, auf was für einem morschen Boden das ganze europäische staats-
gebäude ruht. england und (vielleicht) rußland allein stehen auf gesunden
füßen, alle anderen staaten sind kartenhäuser, und niemand mehr als
wir, das einzig vernünftige, was man in einer solchen stellung thun kann,
ist immer und überall coûte que coûte den statusquo, den frieden zu erhal-
ten suchen, als galgenfrist, und wenn man dazu stark genug ist, ihn mit
gewalt aufrechterhalten, das hätten wir im sommer und herbst 1853 thun
können und sollen, haben es aber aus schwäche, aus falscher nachsicht
gegen rußland versäumt.
sowie aber einmahl der krieg erklärt war, konnten wir nicht anders als
mit den Westmächten gehen. das sehen diese sehr wohl ein, trotz allem
obligaten Weihrauch, den sie der eitelkeit des jungen herrn1 streuten, und
1 kaiser franz Joseph.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien