Seite - 142 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 142 -
Text der Seite - 142 -
Tagebücher142
vinzen lebenden, dem volke näher stehenden), fast den ganzen hofstaat,
während merkwürdigerweise der kaiser und die erzherzoge entschieden
antirussisch sind, und die hiesige generalität, wenigstens insoweit ich sie
kenne, bey dieser letzteren ist es persönliche Anhänglichkeit an die Person
des czaren, bey jenen furcht vor der revolution, engländerhaß stupider
seit 1848, und auch vielleicht eine gewisse ehrenhafte unbeholfenheit, so
schnell von einer Ansicht zur entgegengesetzten überzuspringen.
[Wien] 27. oktober
die dinge entwickeln sich allmälig, oder vielmehr sie treten klarer und un-
verhüllter hervor. die idee einer Wiederherstellung Polens, welche noch vor
einem Jahre die verrückteste aller chimaeren schien, taucht auf, und man
familiarisirt sich mit ihr, uns ist sie bey der vorwiegend ruthenischen Bevöl-
kerung und dem (wie man behauptet) loyalen Bauernstande selbst in den
polnischen theilen galiziens weniger gefährlich, als man denken sollte, und
das ist allerdings der einzige Weg, die unerträgliche übermacht rußlands
zu brechen. dazu aber ist ein jahrelanger Weltkrieg erforderlich, und es
ist die frage, ob wir nicht unterwegs zusammenbrechen, übrigens, glaube
ich, haben wir kaum die Wahl mehr, das ganze europäische staatengebäude
kracht und will auf eine neue Basis gestellt werden, der fortschritt und
die humanität werden bey dieser, wie bey einer jeden solchen großartigen
historischen evolution gewinnen, jedoch liegen noch lange kriege und ein
zweyter Wienercongress dazwischen, es ist beynahe lächerlich, jetzt von ei-
ner reduction der Arméen zu sprechen, und doch glaube ich, daß dieser
krebsschaden unserer Zeit in folge der künftigen allgemeinen Paciscirung
ausgeschnitten werden wird. Bayern bläht sich wieder einmahl auf wie der
frosch in der fabel, und vonderPfordten reist mit einem wichtigen Profes-
sorgesichte herum, um zu vermitteln. mich ärgert aber die Bettlerrolle, die
wir nun schon seit einiger Zeit spielen, bey Preußen, beym Bunde um hülfe
ansuchend und unsere entschlüsse in dieser erwartung verzögernd. dar-
über ging der sommer und geht der nächste Winter verloren, zu unserm
unsäglichen finanziellen Nachtheile, vielleicht zu unserm Ruin, steht der
entschluß, rußland noch über die Wegnahme des donauprotectorates hin-
aus zu schwächen, einmahl bey uns fest, so würde ich es ruhig und für mich
allein anpacken und schon vor monathen angepackt haben und im falle
eines unfalles und einer Bedrohung der Bundesgrenzen auf grund der Bun-
desacte das reich aufmahnen. Zeigt sich dann Widerstreben, so ist der Bund
zerrissen und lebensunfähig, und die großen (meinetwegen auch frank-
reich) theilen sich dann den Besitz jenes ekelhaften kleinen geschmeißes.
unsere ärgste gefahr sind die finanzen, das Agio steigt anstatt in folge
der nationalanleihe zu fallen, bey den enormen kosten dieses Zwitter-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien