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Tagebücher150
ich habe vor ein paar tagen mit einigen Zeilen dem fürsten metternich
die verschiedenen mémoiren überschickt, welche mir Jochmus von seiner
reise über die verhältnisse von ostindien und china hat zukommen lassen.
gottfried liegt seit 10–12 tagen mit seinem regiment im marchfelde, auf
seinem durchmarsche durch Wien sah ich ihn, seitdem nicht mehr. Wimpf-
fen sehe ich zuweilen, er ist höchlichst mißvergnügt über seine neue stel-
lung, sein nachfolger als marine-obercommandant erzherzog max (von
dem man sich im corps übrigens viel zu versprechen scheint) trifft radicale
Änderungen im Personalstande, die Wimpffen auch keine freude machen
werden,1 u.a. wurde möring wieder zum genie2 zurückversetzt, zur großen
genugthuung der marine.
vor ein paar tagen sind Arthur russell und Alexander Baumann nach
Aegypten abgereist, und ich gab ihnen Bücher, instructionen etc. mit, es war
mir, als fühlte ich ein heimweh, als müßte ich sie begleiten in das schöne
land, wo es nie regnet und die sonne immer scheint. An Aegypten (nicht an
syrien, kleinasien) denke ich oft und mit sehnsucht. übrigens ist der Win-
ter hier bis nun sehr mild, von schnee keine spur, ein octoberwetter.
ich besuche zuweilen eine oder die andere vorlesung an der universität,
mehr um die Physiognomie des jetzigen academischen lebens kennen zu
lernen, gegen meine studienzeit ein ganz neues und entschieden besseres.
Auf diesem felde wenigstens ist seit 1849 vieles und gutes geleistet wor-
den, und gerade dieses feld ist ohne allen Zweifel das wichtigste. thun
hat den einen großen fehler, ein katholischer mystischer unklarer schwär-
mer zu seyn, daher Abneigung gegen Alles protestantische und manchmal
schwankende richtung, ihn dominirt die ultramontane Partey rauscher,
Philipps, hurter etc.
[Wien] 16. dezember
Heute endlich ist der Allianzvertrag officiell kundgemacht worden, er trägt
ganz den character eines Provisoriums, einer vorrede, welche am 1. Jänner,
wenn rußland bis dahin die 4 Punkte nicht angenommen hat, ergänzt und
zu einem förmlichen kriegesbündnisse erweitert werden wird. rußland hat
inzwischen die 4 Punkte im principe anzunehmen erklärt, unsere interpre-
tation derselben aber und die garantieen, die wir dafür verlangen, wird es
nach meiner und der allgemeinen überzeugung nicht annehmen, der krieg
biethet ihm noch bessere chancen, diesen halte ich also für so gut als gewiß.
1 graf franz Wimpffen war seit september 1854 kommandierender general in Wien. Als
marinekommandant ersetzte ihn erzherzog ferdinand max, der Bruder des kaisers, als
gouverneur von triest und statthalter des küstenlands general frh. karl mertens.
2 die genie- (=ingenieurs-) Waffe der Armee.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien