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Tagebücher184
vielleicht) ließe sich mit der Zeit eine etwas lohnendere Wirksamkeit daraus
erreichen. für jetzt reducirt sich Alles auf sitzungen und unterschriften.
so schrumpft mir Alles unter der hand zusammen, und ich habe noch
immer keine Aussicht auf thätigkeit, stellung, geschweige denn auf ge-
nugthuung.
selbst mein verhältniß zu gabriele neuwall, soviel tröstendes und Wohl-
thuendes es auch für mich hat, vermehrt in diesem Augenblicke noch den
drückenden ernst meiner stimmung, ihr charakter, ihre denkungsweise
besonders in diesen dingen ist so ernst, dabey so sehr jeder verstellung
und unwahrheit unfähig, daß unser verhältniß eine ganz unerwartet ern-
ste farbe angenommen hat, sie hat bereits in diesem sinne explicationen
mit ihrem manne gehabt. Zum glücke scheint dieser einen leichteren sinn
zu besitzen als seine frau und wird sich, wenn einmahl der erste eindruck
überwunden ist, an das unvermeidliche gewöhnen. Aber ich fühle, daß ich
Pflichten gegen sie übernommen habe, und liebe und achte diese schöne edle
reine natur viel zu sehr, um sie nicht im vollen maaße zu erfüllen.
ich habe eine unüberwindliche beynahe krankhafte sehnsucht nach luft-
veränderung, in meinem leben bin ich noch nie so lange an einem orte still
gesessen, dazu die fürchterliche hitze, die wir seit 8–10 tagen unausgesetzt
haben, und die mir, der ich sonst die Wärme liebe, unerträglich wird. Alles
ist aus dieser stinkenden stadt entflohen, und ich warte nur bis zum 1., an
welchem tage gabriele neuwall ins Bad nach neuhaus abreist, um, wenn es
mir meine Angelegenheiten nur einigermaßen erlauben, ebenfalls wegzuge-
hen. Aber wohin? das weiß ich nicht und ist mir gleichgültig, ich bin in dem
stadium angekommen, wo man kein interesse, keine neugierde mehr hat,
das ist ein trauriger Zustand, möge er vorüber gehen.
gabrielle war einige tage hier und ist nach kissingen abgereist, ich fahre
soviel ich kann aufs land, nach vöslau, um zu baden etc. mein leben con-
centrirt sich eigentlich auf die Besuche, die ich meiner gabriele neuwall ma-
che, und die ich dann doch aus gewissen rücksichten nicht, wie ich wollte,
täglich wiederholen kann, und auf ziemlich häufige, mich immer unange-
nehm berührende unterredungen mit Bruck.
[Wien] 25. Juny
nach der enormen hitze der ersten hälfte dieses monaths haben wir nun
seit mehr als 8 tagen kaltes meist regnerisches Wetter, der thermometer
sank bis auf 10° r., ein wahres Wiener Wetter.
ich habe in dieser letzten Zeit wieder ein paar Peripetieen durchge-
macht, nicht minder schwankend und wechselnd als die Witterung, und der
thermometerstand meiner stimmung hat in folge dessen eben so rasche
sprünge gemacht als der réaumursche.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien