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1891.
Juli 1855
werde, es ist bey ihm kaum etwas Anderes als verletzte eitelkeit. sie aber ist
ein engel, und ich verehre und liebe sie täglich mehr.
[Wien] 1. July
gabrielli telegraphirte mir diese nacht, daß die Angelegenheit wegen der
Westbahn in london einen guten fortgang nehme. da es hiernach damit
keine eile zu haben scheint, so will ich, wie es meine Absicht war, morgen
früh abfahren und nach kissingen gehen, habe es ihm aber zu mehrerer vor-
sicht noch heute früh telegraphirt, damit er mir, falls gegen meine Abreise
ein Anstand obwalten sollte, noch heute mittheilen könne. heute will ich
noch mit Bruck sprechen.
es ist mir ein beynahe peinliches gefühl, daß ich in dieser bewegten Zeit
von aller Politik ferne bleiben soll, und jeden Augenblick kömmt mir die ver-
suchung, in dieselbe so gut es geht hineinzupfuschen. doch widerstehe ich die-
sen, wenn auch ungern, denn ich will meinem grundsatze treu bleiben, jede
politische Intrigue zu vermeiden. Aber ich kann es nicht verwinden, daß wir
diese, vielleicht nie wiederkehrende, unverhoffte gelegenheit versäumt haben
sollen, um zwischen uns und rußland ein, wäre es auch ein schwaches, Po-
len einzuschieben. niemand lag so sehr daran als oesterreich, eigentlich nie-
mand Anderer als oesterreich, und wir haben, wie 1831,1 wieder aus furcht
vor einem schatten und dießmal auch noch aus üblem gewissen es versäumt.
so lange dieser krieg nicht größere dimensionen annimmt und anstatt
der orientalischen localfrage nicht den Zweck aufstellt: das russische über-
gewicht in europa zu brechen, ist nichts zu erwarten. daran hätte niemand
ein höheres interesse als wir. frankreich hat gar keines, denn es leidet nicht
darunter und wird einen schönen morgen doch wieder zur russischen Allianz
zurückkehren, do ut des sagen, und je stärker dann der Alliirte, desto besser.
nur jetzt, wo es sich in diese Allianz mit england faufilirt hat und seine mi-
litärische ehre compromittirt ist, wäre eine mitwirkung von seiner seite zu
jenem Zwecke zu erwarten gewesen, aber oesterreich hätte ihn anregen und
ihn als Bedingung seiner Allianz hinstellen sollen.
sowie die sachen stehen, und wenn wirklich alle hoffnung verloren ist
(wovon ich übrigens noch nicht ganz überzeugt bin), uns die Augen zu öff-
nen, so bleibt den Westmächten nichts Anderes übrig, als einen localkrieg
wie bisher fortzuführen und sobald als möglich tout bien que mal frieden
zu machen, oder die revolution zuhülfe zu rufen, vielleicht auch eines nach
dem Andern.
illegale regierungen wie die französische und die unsere könnten keine
vernünftige naturgemäße Politik nach Außen verfolgen, das sieht man jetzt,
1 der polnische Aufstand 1830/31.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien