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19114.
Juli 1855
unsere „freundschaft“ mit den Westmächten scheint, wie vorauszusehen
war, immer mehr in die Brüche zu gehen, die thronrede louis napoléons
war fulminant und sah einer Beschuldigung des treubruches ziemlich ähn-
lich.1 hier in deutschland scheint man unsere umkehr, so erwünscht sie
ist, mit vornehmem lächeln anzunehmen als eine erkenntniß unseres irr-
thums, an Achtung und einfluß haben wir also nicht gewonnen, ich spre-
che von den regierungen und diplomaten, bey den Anderen um so weniger.
Welch ein unterschied gegen den nimbus zu metternichs Zeit und gegen
den hoffenden enthusiasmus aus den ersten Jahren nach 1848! sie beschwe-
ren sich Alle bitter über Buol und sein einerseits rücksichtloses, anderseits
perfides verfahren.
in Betreff der allgemeindeutschen Zustände, der einheitsfrage scheint
vollkommene verzweiflung zu herrschen, daher auch gleichgültigkeit an al-
len europäischen fragen inclusive der orientalisch-russischen und nur ein
Wunsch: daß die kleinstaaten wo möglich verschwänden, ohne zu wissen, ob
und wie dieses zu erreichen wäre? für eine theilung deutschlands zwischen
oesterreich und Preußen wäre jetzt Alles, daher der moment sehr günstig,
wenn nur der Prinz von Preußen könig wäre.
[Bad kissingen] 14. Juli
mein leben ist hier ein höchst einfaches und einförmiges, beynahe ein fa-
milienleben mit etwa einem dutzend sehr guter Bekannter, das ist bequem
und curgemäß, wenn auch nicht eigentlich amusant und noch viel weniger
interessant. die Prinzessinn caroline von strelitz ist eine charmante sehr
liebenswürdige junge frau und hat zwey recht angenehme hofdamen, sie ist
eigentlich meine Badeliebe. die gute hohenthal ist eine gutmüthige klein-
städterinn wie immer. Blittersdorf hat der Politik abgeschworen und ist bloß
speculant geworden, ich habe auch einiges mit ihm verabredet und hoffe,
Bruck in einiger Zeit mit einem halben dutzend Anträgen von seiten der
cölner und darmstädter Bank und andern deutschen capitalisten zu kom-
men. namentlich habe ich ihm die idée einer export- und handelsgesell-
schaft für oesterreich gegeben.
gabrielli hat mir geschrieben, daß das neue französische Anlehen alle
Aufmerksamkeit absorbire, daher für den Augenblick jedes anderweitige
unternehmen suspendirt bleiben müsse, es versteht sich, daß das nur ei-
nen Aufschub von ganz kurzer Zeit bedeutet, nebstdem hatte er auch meine
1 in seiner thronrede anlässlich der eröffnung der Parlamentssession sagte kaiser napo-
leon iii. im Anschluss an seine darstellung des verlaufs der Wiener verhandlungen, er
erwarte noch immer, „dass Österreich seinen Verpflichtungen nachkomme“, d.h. dass es
auf seite der Westmächte in den krieg gegen russland eingreife.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien