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bey dem jetzt hier herrschenden schwindel und unternehmungswahnsinn
die Capitalien hier glänzende Verzinsung finden und sogar aus England
zahlreich hieher strömen, die englische Bank hat in folge dessen ihren dis-
conto bereits erhöht und wird, wie man sagt, denselben nochmals erhöhen.
der hiesige geldmarkt ist ganz vom crédit mobilier beherrscht, welcher
ein wahres schwindelgeschäft ist, deßhalb scheint mir auch eine catastro-
phe über kurz oder lang wahrscheinlich, und darüber dürfte dann auch
louis napoléon den hals brechen. Pereire, der chef des créditmobilier, ist
in Wien, wohin ihn, wie ich höre, Bruck berufen hat.1
für den Augenblick aber herrscht hier, wie nicht zu läugnen, eine noch
nie da gewesene Prosperität, und grandiose verbesserungen, verschöne-
rungen tauchen allenthalben auf, und Paris scheint auf dem Wege, selbst
london in geschäftlicher Beziehung den rang abzulaufen. Alles concentrirt
sich immer mehr in der hand weniger gesellschaften, und hinter diesen
steckt wieder der créditmobilier.
mrs. norton war ein paar tage unwohl, mein leben concentrirt sich, seit
sie hier ist, um sie und um ihren kreis von Bekannten, neulich brachte ich
mit ihr bey lady lucy gordon einen sehr angenehmen Abend zu und lernte
dort Alfred de vigny kennen, auch lord und lady holland habe ich aufge-
sucht, sidney herbert sah ich bey mrs. norton auf der durchreise, leider
nur einen Augenblick, ich sehe zu meiner großen genugthuung, daß ich
in einer gewissen klasse der englischen gesellschaft noch immer, ja sogar
vielleicht mehr als sonst populair bin, und gerade mit diesen leuten dient
mir mrs. norton als intermédiaire. Bey der großen vorliebe, ich möchte
beynahe sagen dem enthusiasmus, den ich seit meiner frühesten Jugend
für england und die engländer gehabt habe, und der mit den Jahren im-
mer zunimmt, lege ich auf diese verbindungen einen großen Werth. der
moment kömmt doch noch, wo sie mir eine Waffe seyn werden.
so vergeht mir denn meine Zeit recht angenehm, ganz anders und weit
besser, als ich es sonst in Paris gewohnt war, das theater- und mätressen-
leben würde mich jetzt langweilen. gabriele neuwall besuche ich von Zeit
zu Zeit, jedoch nicht zu häufig, um keinen Anstoß zu geben.
neulich aß ich bey gabrielli mit dem alten fürsten montléart.
[Paris] 21. september
gestern war uzielli bey mir, er schien mir sehr gut disponirt und hat um
laing nach london telegraphirt, damit wir die sache hier in möglichster
1 es handelte sich wohl um isaac Pereire, der gemeinsam mit seinem Bruder Émile die Pari-
ser Bank crédit mobilier leitete. er wurde Präsident des comités der österr. staatseisen-
bahn-gesellschaft.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien