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November 1855
rigens ist dieses wieder ein Beleg mehr für den Zwiespalt und die Zerris-
senheit im schooße des ministeriums, welche immer offenkundiger wird.
Auch doblhoff, welchen ich leider nur einen Augenblick, gerade vor seiner
rückreise nach dem haag, sprach, jammerte mir über diese zunehmende
rathlosigkeit und die trostlosen Zustände, das kann noch ein, zwey Jahre so
fortgehen, länger nicht, das sehen nach und nach selbst die ein, welche noch
vor kurzem Alles vortrefflich fanden.
die russen erhalten einen schlag um den anderen, und der friede ist ent-
fernter als je.
das Wetter ist herrlich, die stadt leer und langweilig.
[Wien] 1. november
michel hat in diesen tagen die Bahnstrecke von hier bis sct. Pölten bereist,
ist jetzt wieder hier, um die nöthigen materialien zu sammeln, und gedenkt
am 5. abzureisen, die Bahnlinie über linz bis salzburg und dann weiter bis
münchen zu verfolgen und von dort nach Paris zurückzukehren, wo er kaum
vor dem 20. anlangen wird. dort wird er seinen generalbericht an talabot
erstellen, so daß ich gegen ende des monaths erwarte, von diesem seine end-
liche entschließung zu erfahren, und wenn diese, wie ich nicht einen Augen-
blick zweifle, für die fortsetzung des unternehmens (eines der brillantesten
dieser Art, welche je vorgekommen) ausfällt, mit den officiellen schritten
bey der regierung beauftragt zu werden. ich habe talabot so eben ein state-
ment über den gegenwärtigen stand der sache geschickt, es gibt mehrere
concurrirende Bewerber. Blühdorn arbeitet als boshafter maulwurf im stil-
len, rothschild suchte mich neulich auszuholen und dürfte ebenfalls gegen
uns wirken, da er eine Bahn am linken donauufer (der nordbahn halber)
im sinne hat,1 welche übrigens von der regierung nicht autorisirt werden
dürfte, ich habe daher talabot vorgestellt, daß es dringend nothwendig sey,
unverzüglich einen positiven schritt zu machen und die Bauconcession zu
verlangen, daß die regierung ceteris paribus uns den vorzug geben wird,
dafür bürge ich, ist es doch in ihrem interesse, mit angesehenen bewährten
namen, welche ihr auch für die Zukunft den französisch-englischen markt
öffnen, abzuschließen.
es rührt sich bey uns von allen seiten. cordon, sina, eskeles etc. traci-
ren die Bahn ofen-kanischa-marburg, eine belgische gesellschaft bewirbt
sich um die linie tarnow-kaschau, ein paar ungarische sind ebenfalls in
thätigkeit, kurz es ist ein erfreuliches leben, leider nur auf diesem felde.
der nächstens ins leben tretende crédit mobilier beschäftigt die Aufmerk-
samkeit sehr, Bruck scheint mir dabey eine thätigkeit zuwenden zu wollen,
1 hauptaktionär der kaiser-ferdinand-nordbahn war das Bankhaus rothschild.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien