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Dezember 1855
der hypothekenbank ist wieder Alles still, die Bank wehrt sich, und nicht
mit unrecht, soviel sie kann gegen diese neue Aufgabe, ebenso wie gegen
die übernahme der ihr an Zahlungsstatt aufgedungenen staatsgüter, wobey
übrigens auch wieder mit Brucks gewöhnlichem leichtsinne vorgegangen
wurde, mehrere der im vertrage abgetretenen domänen existiren gar nicht
mehr, Andere müssen nun hinterdrein ausgetauscht, zerstückt etc. wer-
den, der Bankgouverneur Pipiz sprach mir neulich lange davon, als ich ihm
herrn v. marschall aus Baden, der mir durch Blittersdorf empfohlen worden
war, recommandiren wollte.
es ist eine ekelhafte robert macairewirthschaft, und ich denke, eine cata-
strophe wird nicht lange ausbleiben. Als wären wir plötzlich crösusse gewor-
den, werden von allen seiten millionen und millionen fictive Werthpapiere
creirt, eisenbahnunternehmungen und speculationen aller Art tauchen auf
und sind lauterer schwindel.
talabot hat mir heute geschrieben, michel war erst am 29. angekommen,
er ermächtigt mich, ein definitives concessionsgesuch einzureichen, und
wird mir nächstens ausführlicher schreiben.
neulich war in der geologischen Anstalt eine von haidinger veranlaßte
vorbesprechung wegen gründung einer geographischen gesellschaft,1 ich
wurde in das comité wegen entwerfung der statuten gewählt.
neben den Jüdeleyen des Augenblickes findet fast nur noch das concor-
dat Beachtung und erregt einen täglich steigenden unwillen, ich habe noch
nicht einen menschen gesehen oder von einem gehört, der anders darüber
dächte, es ist das schlagendste Argument gegen unsere absolutistischen,
rechtlosen Zustände.
gabriele neuwall ist seit 21. november wieder hier, ihr mann kam 8 tage
später, ich glaube, daß das verhältniß zwischen ihr und ihm sich einer cri-
sis nähert, er ist ein characterloses misérables subject, und sie hat bey ihm
keine ruhige stunde mehr, dennoch aber ist sie heiterer und einiger mit sich
als je zuvor, leider ist ihre äußere stellung ganz von ihm abhängig, und dar-
über müßte sie vor Allem Anderen ins reine kommen, dann aber vielleicht
auf einige Zeit sich von ihm trennen. meine vorjährigen erwartungen eines
friedlichen Zusammenlebens, eines angenehmen litterarischpolitischen sa-
lons scheinen demnach zu Wasser werden zu sollen. sie ist ein wahrer en-
gel, und ich liebe sie mehr als je.
Am 2. hatten wir starken schneefall, darauf mehrere tage grimmige
kälte, bis 14° r., seit 2–3 tagen thauwetter, ich lebe wie eine schnecke,
1 Wilhelm v. haidinger, direktor der geologischen reichsanstalt, wurde erster Präsident
der k.k. geographischen gesellschaft in Wien, deren statuten am 26.9.1856 die kaiserliche
genehmigung erhielten.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien