Seite - 237 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 237 -
Text der Seite - 237 -
23723.
Dezember 1855
lindheim, merk, löbbecke etc., welche uns eine ernsthafte concurrenz ma-
chen. lindheim war neulich bey mir und machte mir den Antrag, mich für
meine Person mit ihnen zu verbünden, was ich natürlich ablehnte, das sähe
so ziemlich einer hundsfötterey ähnlich. merk ist jetzt hier, und so dürfte
vielleicht nächstens etwas zu stande kommen.
der unwillen über das concordat wühlt im stillen weiter, man spricht
nicht davon, und das ist das ärgste, ein glück noch, daß man in diesem Au-
genblicke allgemeiner gewinnsucht und speculationswuth noch mit gewalt
an ernstere, wichtigere dinge gemahnt wird, ich kann nicht sagen, wie ekel-
haft, wie zuwider mir dieses Judenwesen wird, welches sich, wenigstens für
den Augenblick, der ganzen Bevölkerung bemächtigt hat, doch in den Pro-
vinzen herrscht die alte ernste unzufriedene stimmung, und dort haben die
robert macaires noch keinen Boden.
eine große, segensreiche und nicht bloß in materieller, sondern mehr noch
in geistiger und politischer Beziehung folgenschwere maaßregel soll endlich
ins leben treten: die einführung der gewerbefreyheit. ich habe neulich tog-
genburg dazu gratulirt und ihm gesagt, ich beneidete ihn darum, daß er sei-
nen nahmen unter das gesetz werde setzen dürfen.1
man spricht viel vom frieden, ich glaube nicht daran, wir haben wieder
die Allerweltsvermittlerrolle übernommen, wie vonderPfordten vor einigen
Jahren in den deutschen Angelegenheiten, und machen uns eben so lächer-
lich wie er. einstweilen wird mit der Arméereduction fortgefahren, um sie
wahrscheinlich im nächsten frühjahre wieder completiren zu müssen.
flore ist in Paris und wird vom kaiser mit Artigkeiten überhäuft, was
auch eine Art demonstration ist.
[Wien] 23. dezember
meine gesellschaft talabot & c., die ich mit so großer mühe zusammen-
brachte, scheint so gut wie gesprengt. Bruck theilte mir vorgestern mit, daß
lindheim, merk & c. ihr commissionsgesuch mitgebracht hätten und nichts
Anders als die garantie der 5% Zinsen verlangten! nach den großen schwie-
rigkeiten, welche ich in Paris bey viel günstigeren Bedingungen gefunden
hatte, wunderte ich mich zwar über diese genügsamkeit, sagte aber Bruck
sogleich, daß ich der erste seyn würde, um ihm anzurathen (falls es sonst
kein nisi gäbe), das Anboth anzunehmen.2 er meinte nun, ich sollte, da diese
1 die neue gewerbeordnung wurde erst vier Jahre später verabschiedet (kaiserliches Patent
vom 20.12.1859). sie brachte ab 1.5.1860 die grundsätzliche gewerbefreiheit bei zahlrei-
chen einschränkungen.
2 die konzession für die Bahnstrecken Wien-linz-salzburg und -Passau (nach kaiserlicher
entschließung v. 8.2.1856 kaiserin elisabeth-Bahn) ging schließlich an das von hermann
lindheim und ernst merck geführte konsortium, das sich mit der rothschild-gruppe ver-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien