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Dezember 1855
sondern nur ergänzen will, sie behandelt die frage wegen erhöhung der ein-
nahmen durch steigerung der Production und steuerfähigkeit, ich will nun
die zweyte frage, die der reduction der Ausgaben beleuchten durch Ände-
rung des verwaltungsorganismus im sinne der selbstregierung und localen
und provinciellen selbstständigkeit, so möchte ich meine alte idée in neuer
fassung wieder vorführen, will ich aber nur halbwegs wirken, so muß ich un-
ter den gegenwärtigen verhältnissen an hundert dinge anzustoßen vermei-
den, und das macht die sache schwierig und unerquicklich. Andererseits sehe
ich ein, daß es nothwendig ist, wieder einmahl ein lebenszeichen von mir zu
geben, damit man nicht denke, ich sey ganz eingeschlafen, und die robert
macaires nicht ganz allein den vordergrund der Bühne einnehmen.
für 1856 sind (und zwar in erwartung friedlicher verhältnisse und einer
andauernd reducirten Armée) die Ausgaben auf 409 millionen, das deficit
auf 154 millionen praeliminirt!! seit 1853 betragen die deficits zusammen
an 530 millionen, wohin soll das führen?
es wird immer kälter und kälter, ein beispielloser december, seit dem 2.
haben wir fortwährend strenge kälte, die schon bis 18° stieg.
[Wien] 31. dezember
Wieder geht ein Jahr zu ende, unter ebenso ungewissen Zuständen wie das
vorige, die fortsetzung des krieges noch wahrscheinlicher als damals, obwol
auch jetzt einzelne friedenshoffnungen und von frankreich her Andeutun-
gen wegen eines fürstencongresses (das ungeschickteste, was jetzt gesche-
hen könnte) laut werden. unsere stellung ist gegen heute vor einem Jahre
tief gesunken. niemand traut mehr unserer Politik, niemand kümmert sich
fast mehr um sie. An unsere ehrlichkeit wollte man nie recht glauben und
ebensowenig an unseren muth, jetzt glaubt man auch nicht mehr an unsere
einsicht und gesunden menschenverstand, seit dem Abschlusse des concor-
dates namentlich. leichtsinn, Beschränktheit, feigheit, treulosigkeit, dabey
rohe Willkür und dummheit im innern, das ist das schöne Bild, welches wir
vor den Augen der Welt entrollen. dabey ein zunehmender schwindel und
steigende herrschaft der Judenclique, welche ohne gewissen, ohne Patrio-
tismus, ohne sich um die Zukunft zu kümmern, Alles nach und nach in ihren
strudel hineinzieht, und Bruck scheinbar als dirigent, in der Wirklichkeit
aber als der gefoppte, der mann ist ebenso leichtsinnig als unverläßlich und
immer noch mehr triester Zibebenhändler als staatsmann, doch ist er jetzt
eben auf dem culminationspunkte seines Ansehens.
obwohl ich von talabot & c., welche er nun so schmälich im stiche läßt,
noch keine Antwort habe, so betrachte ich es als ausgemacht, daß sie sich
zurückziehen werden, es wird dabey nicht zu vermeiden seyn, daß sie mir
ausdrücklich oder stillschweigend an diesem plötzlichen fehlschlage schuld
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien