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Februar 1856
die ganze Aufmerksamkeit des landes und der regierung ist übrigens
jetzt durch industrielle unternehmungen, durch eine wüthende Agiotage
und durch die friedensconferenzen in Anspruch genommen. unternehmun-
gen aller Art, eisenbahnen, creditgesellschaften, Bergbaugesellschaften etc.
entstehen allenthalben. Wenn dabey nicht soviel schwindeley mit unterliefe,
so wäre dieß ein sehr erfreuliches resultat, und auch so leidet es keinen
Zweifel, daß der materielle Wohlstand des landes sich trotz einzelner ver-
luste bedeutend heben wird, was es in höherer, in sittlicher und politischer
Beziehung für folgen haben wird? da ließe sich manches verschiedene sa-
gen, jedenfalls wird es die leute an selbstthätigkeit gewöhnen, sie unter
einander in verbindung bringen und ihnen gegenüber der regierung muth
und selbstständigkeit einflößen.
An administrative (welche zugleich politische seyn müßten) reformen
im inneren ist daher gegenwärtig nicht zu denken, so nothwendig diesel-
ben auch selbst vom finanziellen standpunkte aus wären. Aber der junge
herr sieht nicht weiter als die nase, hat noch immer seine jämmerlichen
militärischen rathgeber hess, kempen etc. um sich, und niemand, Bruck
ebensowenig als irgend ein Anderer, hat den muth, ihm eine unangenehme
Wahrheit zu sagen, sondern man fährt ihn rücklings durch den finanziellen
Agiotageschmutz in den morast.
ich bin in den verwaltungsrath der Westbahn gewählt worden, nicht ohne
opposition, welche wieder ausschließlich, aber dafür sehr entschieden auf
meiner stellung zum hofe beruhte, doch sind Bruck und lindheim mit ihren
Bemühungen durchgedrungen. vorgestern sollte nun Bruck die liste dem
kaiser vorlegen, er zweifelt nicht im mindesten daran, daß er keinen An-
stand gegen mich erheben werde, ja er sagte sogar, dieser würde ihm ein
willkommener vorwand seyn, um die ganze sache hinsichtlich meiner per-
sönlichen stellung (welche vielen doch nach und nach unbequem zu werden
anfängt) zur sprache zu bringen, doch habe ich soviele erfahrungen in die-
sen letzten Jahren gemacht, daß ich, so lange ich nichts positives darüber
weiß, auf nichts mit Bestimmtheit zähle. Angenehm wäre mir diese stellung
hauptsächlich, weil es ein Anfang einer Beschäftigung und vielleicht ein
übergang zu einer andern mir mehr zusagenden wäre, namentlich aber weil
ich im entgegengesetzten falle meine eitelkeit empfindlich verletzt fände
(und zwar meine legitime eitelkeit), von einem unternehmen ausgeschlos-
sen zu bleiben, woran ich solange gearbeitet habe, was längst kein geheim-
niß mehr ist. ohnehin habe ich dabey des unangenehmen genug erfahren.
übrigens ist meine existenz langweiliger und einförmiger als je, und ich
wünsche mehr als je zuvor, von hier weg zu kommen, wo ich weder eine Be-
schäftigung noch gesellige und geistige ressourcen habe. Wien wird immer
unausstehlicher, kleinlicher, mit allen den unausbleiblichen folgen der lan-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien