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Oktober 1856
sonst sah ich von Bekannten Pontois, ein einzigesmahl cousin, den ich
sehr gealtert fand, ottenfels, venier und mofras, die hollands habe ich auf-
gesucht, aber nicht getroffen.
es ist jetzt ein panischer schrecken und eine Art von déroute an der hie-
sigen und an allen Börsen europas, selbst die londoner nicht ganz ausge-
nommen. Wenn auch der große silber Abfluß nach rußland, von wo enorme
Ausfuhren nach europa gehen, eine hauptursache seyn mögen [sic], so zeugt
es doch auch zugleich von der unsicherheit unserer politischen Zustände,
daß der kleinste luftzug solche Wirkungen hervorbringt, denn daß die nea-
politanische Affaire dabey eine hauptrolle spielt, leidet keinen Zweifel.
man scheint bey uns sehr erschreckt über die Absicht der Westmächte, eine
escadre vor neapel zu schicken. sind wir doch in der lage, immer und über
Alles erschrecken und uns dann auf unwürdiges Bitten verlegen zu müssen.
das sind die folgen eines misgovernment von 8 Jahren!
rußland hat von der neapolitanischen Angelegenheit Anlaß genommen,
um ein circulare in die Welt zu schicken, welches wieder einmahl von seinem
tiefen grolle gegen uns zeugt, dieser scheint überhaupt vor der hand die lei-
tende richtung der russischen Politik werden zu sollen, sowie anderseits das
kokettiren mit frankreich, recte mit dem kaiser, denn dieser ist für den Au-
genblick frankreich, und dieses kokettiren findet hier, wie es scheint, günsti-
gen Boden, um so mehr, als in england der unmuth über die secundäre rolle,
welche es theils durch eigene schuld, theils durch französische Prahlhanse-
rey in der letzten Zeit gespielt hat, immer lauter zu werden anfängt.
leider aber sehe ich trotz alledem keine spuren einer Annäherung zwi-
schen england und uns. Paris aber wird täglich mehr die Welthauptstadt der
frivolitäten, sehen wir zu, daß es dieß nicht auch für ernstere dinge werde.
Wien 11. october
ich hätte in Paris gerne die Bekanntschaft von einigen der mitarbeiter an
der revue des deux mondes gemacht, welche sich mit deutschen und somit
auch (wenn auch höchst unvollkommen) mit österreichischen litteratur-
und politischen Zuständen beschäftigen, überdieß aber hätte ich auch noch
gewünscht, einige der wenigen franzosen kennen zu lernen, welche sich mit
der idee des selfgovernment, der individuellen selbstständigkeit zu beschäf-
tigen anfangen, und von ihnen näheres über die Anfänge und verbreitung
dieser schule, welche in frankreich bisher so wenig Boden hatte, zu erfah-
ren. Aber die Zeit war zu kurz, und die leute waren meist abwesend, so von
den letzteren tocqueville, Beaumont (?),1 montalambert, von den ersteren
1 gustave Beaumont de la Bonninière war von August bis dezember 1848 französischer Bot-
schafter in london und daher Andrian aus dieser Zeit persönlich bekannt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien