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Oktober 1856
nicht eingehen würde) könnten ihm am ende ganz so gefährlich werden wie
die brutale korporalspolizey kempen’s, welche sich eben wieder an unruh
so glänzend bewährt hat.1 unruh war auch bey mir, doch war ihm, da seine
eigene gesellschaft aus furcht und Wohldienerey ihn fallen ließ, nicht mehr
zu helfen.
übrigens scheint die Zeit gekommen, um mit den grundsätzen einer ver-
nünftigen staatstheorie vor die Welt zu treten, durch die bitterste erfahrung
haben sich die beyden gegner, der Absolutismus sowohl als der liberale Bu-
reaukratismus abgenützt, und die denkenden sammeln sich immer mehr
um die fahne englischer Principien, sogar in frankreich, wo man es am we-
nigsten erwartet hätte, und die revue des deux mondes ist das organ dieser
männer. Bey uns möchte ich sagen, daß die sympathieen, die dunkeln ge-
fühle (denn das ist Alles, was in politischen dingen bey uns vorhanden ist)
Aller in diese richtung gehen, es handelt sich nun darum, den leuten ihre
eigenen gefühle klar zu machen und ihren verstand zu überzeugen. Auch in
deutschland, wo die Bureaukratie viel mehr eine macht geworden ist als bey
uns, wird die Zahl und das gewicht ihrer gegner täglich größer und recrutirt
sich nun schon auch unter den fürsten, so hat mir diezel eben von einer
Journalunternehmung in dieser richtung gesprochen, deren redaction ihm
eben, als er hieher abzureisen im Begriffe stand, angebothen wurde, und an
deren spitze nebst heinrich v. Arnim der großherzog von Baden steht.
gabriele neuwall ist gestern auf ein ganzes monath aufs land gegangen,
und seitdem ist eine große, unausfüllbare lücke in meiner hiesigen exi-
stenz, sie kann mir durch nichts Anderes ersetzt werden.
übrigens ist die stadt leer, das Wetter herrlich, obwol kalt, so daß es ei-
nem wirklich wehe thut, diese letzten schönen tage hier zubringen zu müs-
sen. ohnehin erweckt der herbst wenigstens bey mir immer ein wehmüthi-
ges gefühl, man bereut, die verschwundene schöne Jahreszeit nicht genug
gewürdigt und genossen zu haben, so mag einem, nur in verstärktem maße,
im herbst des lebens zu muthe seyn.
Am politischen himmel ziehen sich langsam Wolken zusammen. vor nea-
pel wird es nun doch trotz unserer Bemühungen zu einer flottendemonstra-
tion der Westmächte kommen, und niemand kann wissen, wie weit bey dem
in italien aufgehäuften gährungsstoffe eine solche führen kann. im oriente
scheinen sich frankreich und rußland die hände zu reichen, gegen uns und
für eine union der donaufürstenthümer, eine lebensfrage für uns. über-
haupt tritt die russischfranzösische Allianz nach und nach ins leben, und
zum erstenmahle erblicke ich leise Anfänge einer Annäherung zwischen uns
1 Andrian hatte am 18.9.1856 von der Anstellung von hans viktor v. unruh bei der kaiser
franz Joseph-orientbahn und der kritik daran durch die Polzeibehörden berichtet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien