Seite - 292 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 292 -
Text der Seite - 292 -
Tagebücher292
Anfangs ziemlich kalt empfangen wurde, nach und nach terrain zu gewin-
nen, er thut auch, zum erstenmahle, vieles, um sich populär zu machen,
u.a. hat er eine ziemlich umfassende Amnestie gegeben,1 und was noch wun-
derbarer ist, er geht in civilkleidern, überhaupt deutet manches auf einen
umschwung, was mich auch bey ihm, der weder ein charakter noch eine
capacität ist, nicht überraschen würde.
hayward hat sich aus Anlaß der übersetzung seines Artikels über die
krim expedition mit mir in correspondenz gesetzt, was mir ganz recht ist,
ein mann wie er, der bey den „times“ einen festen fuß hat und bey den mi-
nistern hin und her läuft, ist zu benützen.
[Wien] 19. Jänner 1857
Wir haben keinen strengen, wohl aber einen sehr schmutzigen, veränderli-
chen, folglich ungesunden Winter, schnee, dann sogleich wieder thauwet-
ter, so daß der schnee schon 2–3 mahl ganz verschwunden war, dazwischen
mitunter ein sehr kalter tag, auch grassiren typhus und andere derley
krankheiten. in geselliger Beziehung ist es sehr todt und still, die geschäfts-
leute klagen sämmtlich über mangel an erwerb, es scheint wirklich, daß
die Abwesenheit des hofes hierauf nicht ohne einfluß ist, obwohl ich diese
stagnation hauptsächlich der mißstimmung unserer finanziellen und Bör-
senwelt (zu welcher letzteren nach und nach der ganze mittelstand und
selbst die niederen klassen gezählt werden müssen) zuschreibe. es ist eben
eine Art von katzenjammer, alle Papiere sinken immer mehr, namentlich
herrscht eine große muthlosigkeit und theilweise erbitterung gegen die cre-
ditanstalt und Alles, was damit in verbindung steht. man hat sich hier über
seine kräfte eingelassen und sich thörichter hoffnungen hingegeben. diese
erscheinung zeigt sich in ganz europa, aber in einem viel höheren maaße
hier, in dem geld- und industriearmen oesterreich.
die politischen Begebenheiten haben hierauf keinen einfluß, indem viel-
mehr eine differenz nach der anderen sich löst, und jene malaise dennoch
nicht nachläßt, die neuenburgerfrage ist beygelegt, wobey Preußen sich
wieder einmal ziemlich lächerlich gemacht und gegen frankreich die kläg-
liche rolle eines supplicanten gespielt hat, die russischen intriguen gegen
die Ausführung des Pariserfriedens sind beseitigt, und die neapolitanische
frage scheint einzuschlafen. dennoch bleibt eine allgemeine mißstimmung
und Ängstlichkeit in politischer Beziehung herrschend, man traut den inne-
1 Am 2.12.1857 begnadigte kaiser franz Joseph siebzig wegen hochverrats verurteilte,
gleichzeitig wurde die Konfiskation der Güter der italienischen Emigranten aufgehoben
und der generalgouverneur ermächtigt, die rückkehr jener emigranten zu genehmigen,
die darum ansuchten.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien