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März 1857
Burger wird Justizminister,1 auch so ein auf der straße aufgeklaubter
Pilz, von dem man wenigstens bis jetzt noch nicht weiß, wie er zu einer sol-
chen stellung kommt.
[Wien] 10. märz
es wird frühling, meine gesundheit war den Winter über vortrefflich, jetzt
aber stellt sich mein gewöhnlicher husten wieder ein, der zwar nicht sehr
heftig, aber langwierig ist und eben dadurch die Brust afficirt. der fasching,
der vor ungefähr 14 tagen zu ende ging, war, so still er anfing, dann ein
sehr belebter, die Abwesenheit des hofes hatte also nicht die geringste Wir-
kung auf denselben, wie manche befürchteten und vielleicht manche, die
Alles in der Person des kaisers reassumiren möchten, gewünscht hätten. ich
war nirgends, nicht aus freyer Wahl, denn die gesellschaft namentlich der
damen (so wenig ressourcen die hiesige gesellschaft auch biethet) würde
mir zuweilen wohlthun und mich auffrischen, aber die Zeit ist noch nicht
gekommen, um wieder in derselben auftreten zu können.
Alexander mensdorff heirathet Aline dietrichstein, oder vielmehr, er
läßt sich von ihr heirathen, der gute mensch hat alle guten eigenschaf-
ten, ausgenommen die, ein mann zu seyn, und das ist mit 44 Jahren nicht
mehr zu entschuldigen. ich habe wegen gabrielle ein interesse daran ge-
nommen und begreife, daß es immerhin schwer fällt, die letzten enden ei-
ner alten illusion abzustreifen, besonders wenn man nichts mehr vor sich
hat als die trostlosen lebensaussichten eines alternden unvermählten, das
bekümmert mich um sie, und manchmal habe ich wohl auch des retours
sur moi-même und denke, ob ich nicht einmahl die nämliche reue empfin-
den werde, wenn es zu spät seyn wird? Beynahe zu spät ist es schon jetzt.
ich bin so ganz mit anderen dingen beschäftigt, daß ich für ein häusliches
leben keine empfänglichkeit habe, jetzt so wenig wie vor 20 Jahren, und
ich kann mir nicht denken, daß dieses in 20 Jahren anders seyn könne,
für eine solche häuslichkeit nämlich, welche man gewöhnlich unter die-
sem Worte versteht. dagegen bin ich sehr empfänglich für den Werth eines
verhältnisses inniger Zuneigung und vollkommensten vertrauens zu einer
frau, von welcher man sich über Alles Andere geliebt weiß, und auf die
man sich unter allen umständen verlassen kann, ich mache eben jetzt und
seit 2 Jahren die erfahrung, welch einen unschätzbaren trost- und stütz-
punkt ein solches verhältniß gewährt, zugleich aber auch, daß ein solches
verhältniß immer unvollkommen und ungenügend bleibt, wenn es nicht
vor den Augen der Welt gerechtfertigt und wenn es ebendeßwegen durch
1 Justizminister blieb bis 17.5.1857 frh. karl v. krauss, sein nachfolger wurde graf franz
nadásdy. frh. friedrich moriz v. Burger blieb statthalter in mailand.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien