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Tagebücher312
bereitet sich langsam eine neue gestaltung vor, ob eine bessere oder schlech-
tere? ist noch nicht vorherzusehen. die finanzielle entmuthigung ist unge-
heuer. Bruck scheint den kopf zu verlieren, ein sanguiniker und schwin-
delkopf wie er ist, taugt er besser für rosenfarbe Zeiten als für finstere, es
rächt sich nun an ihm der leichtsinn, mit welchem er alle politischen refor-
men, überhaupt Alles, was nicht speculation war, vernachlässigt hat, trotz
meiner und so vieler Anderer warnenden stimmen. Auch jetzt verfährt er
mit demselben leichtsinn, mit derselben cavalièren nichtberücksichtigung
aller schicklichkeiten, versprechungen, und vor Allem seines eigenen Wor-
tes. neulich ließ er mich zu sich bitten und sprach mir wie ein galgenpater
zu, meine opposition gegen die reducirung des Actiencapitals der Westbahn
(von der ich mir obendrein nicht einmal einen wesentlichen einfluß auf den
stand der Papiere verspreche) fahren zu lassen. Auch die linie linz-Passau
hätte er ohne Anstand aufgegeben, wenn ich und ein paar (oder eigentlich
nur einer) unserer verwaltungsräthe nicht so großen lärmen geschlagen
hätten, und nicht zugleich die bayerische regierung, mit der darüber erst
vor einem Jahre ein staatsvertrag geschlossen wurde,1 protestirt hätte.
talabot, galliera etc. sind hier und unterhandeln wegen der linie Wien-
triest. obwohl sie 2 concurrenten haben: Pereire und die französische
gesellschaft,2 und mirès, so glaube ich doch, dass sie, d.h. unsere italienische
gesellschaft, sie bekommen werden, was dann eine theilweise veränderung
unserer organisation zur folge haben dürfte. feri Zichy ist nach einer 14tä-
gigen Anwesenheit wieder abgereist.
die Aufnahme des kaisers in ungarn ist anständig, aber durchgehend
kalt gewesen, um so mehr effekt hat die schönheit der kaiserinn gemacht.
die kindische eigenschaft der ungarn, bey jeder gelegenheit in rührung
und Begeisterung zu zerfließen, scheint eben so wie die unerträglich stupide
gemüthlichkeit der deutschösterreicher nach und nach unter den knüttel-
schlägen der gegenwärtigen verwaltung zu verschwinden. Auf jeden fall ein
fortschritt in der nationalerziehung. mittlerweilen ist in ungarn ein thea-
tercoup vorbereitet worden, welcher aber größtentheils verpuffte, nämlich
1 im vertrag vom 21.4.1856 wurden die vereinbarungen über die verbindung des bayeri-
schen mit dem österreichischen Bahnnetz neu geregelt. Die bayerische Seite verpflichtete
sich, die Bahnen von münchen über rosenheim nach salzburg bzw. kufstein sowie von
nürnberg über regensburg nach Passau zu errichten. dagegen sollten von österreichi-
scher seite die strecken Wien-linz-salzburg sowie linz-Passau, innsbruck-kufstein und
verona-Bozen errichtet werden. die im ursprünglichen vertrag vom 21.5.1851 ebenfalls
enthaltene Brennerstrecke blieb zwar vereinbart, jedoch ohne einen termin für die Ausfüh-
rung, die verbindung salzburg-Bruck a.d. mur wurde gestrichen.
2 die österreichische staatseisenbahn-gesellschaft, die sich mehrheitlich im Besitz der Pa-
riser großbank crédit mobilier befand.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien