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Tagebücher326
Wie ich es voraussah, haben wir in der frage der fürstenthümer nach-
gegeben, und die schweinerey ist fertig, wie weit die folgen davon gehen
werden? ist jetzt noch nicht zu bestimmen, ich fürchte sehr. es ist für uns
jetzt ein kritischer Augenblick. rußland hat überall seine hand im spiele,
in 3 Welttheilen zum allerwenigsten, und steht auf bestem fuße mit frank-
reich, welches seinerseits auch die Allianz mit england wenigstens äußerlich
aufrechthält, daher ein system de bascule annimmt, mit dem auch rußland
wohl zufrieden seyn kann, wobey aber niemand verliert als wir, die wir iso-
lirter als je da stehen. uns bleibt nur eines übrig, als uns so bald, so fest und
so positiv thätig als möglich mit england zu verbünden.
[trouville] 1. september
heute hatten wir den ersten regen, der übrigens auch nur 1 stunde dauerte,
sonst war es immer schön und warm. ich habe seit may keinen ganzen re-
gentag erlebt.
ich habe heute mein 10. Bad genommen, ohne bisher irgend einen ein-
fluß auf meinen organismus zu verspüren, hoffen wir, daß ein wohlthätiger
nicht ausbleiben wird. das einzige, was mir fehlt und wovon ich gerne ge-
heilt seyn möchte: die mouches volantes,1 welche sich in letzter Zeit wieder
häufiger einstellen.
ich habe mich nach und nach ziemlich an das hiesige leben gewöhnt, ob-
wohl es nichts weniger als amusant ist, man trippelt den ganz tag eigent-
lich ohne Zweck herum, vom salon auf die plage, von der plage in den salon
etc. Wohnung und kost im hôtel de Paris waren so schlecht (unsere die-
nerschaft wurde einer nach dem Anderen davon krank), daß wir, d.h. die
Batthyánys, horváth und ich, am 28. ein kleines haus, welches bis zum 8.
dieses monats frey war, mietheten. da wohnen wir nun en famille, früh-
stücken zusammen und mit toni Waldstein und valentin esterhazy, der
mittlerweilen angekommen ist, essen mit ihnen und ein paar langweiligen
franzosen, comte de la redorte und comte de la tour du Pin, bey einem
restaurant etc. Julie Batthyány, unsere hausmutter, ist das amusanteste
verzogenste gutmüthigste kind von der Welt, kocht den ganzen tag lin-
zertorten und dergleichen für uns und ist eigentlich der mittelpunkt, um
den wir uns drehen, ein paar Wochen geht das vortrefflich, länger würde
ich es nicht aushalten. Abends haben wir gewöhnlich leute, meistens rus-
sen und russinnen zum thee bey uns: die kuscheleff, obolenski, mad. Pan-
kratjeff mit ihrer superben tochter etc. Auch mohl habe ich hier eingeführt.
von derPfordten sah ich öfters, jetzt ist er abgereist, ebenso Pontois, son-
1 Fliegende Mücken; schwarze Punkte, Flecken oder Streifen im Gesichtsfeld, die sich mit
der Blickrichtung verschieben.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien