Seite - 340 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band III
Bild der Seite - 340 -
Text der Seite - 340 -
Tagebücher340
wohin er mit den höchstgestellten generalen der Armée abgereist ist, um
der übermorgen dort stattfindenden leichenfeyer beyzuwohnen, so will ich
sehen, was zu thun ist.
die stadterweiterung und schleifung der Basteyen ist endlich beschlossen
und zu Weihnachten verkündiget worden,1 so geht denn meine langjährige
und noch bis zum letzten Augenblicke heftig angefeindete idée in erfüllung.
es kam Allen, mir selbst, unerwartet und findet noch jetzt zahlreiche und
leidenschaftliche tadler. mich hat seit lange nichts so erfreut, und ich hoffe
nur, daß die Ausführung dem großartig angelegten und energisch ausge-
sprochenen Plane entspreche, wovon ich nicht ganz überzeugt bin, da ich
eine große opposition gewahre von seiten der furchtsamen, der sogenann-
ten vernünftigen practischen leute, der militärischen und anderen Zöpfe,
endlich aller Jener, die principiell gegen jede regierungsmaßregel opponi-
ren. Wird diese maßregel gehörig durchgeführt, so ist sie von ungeheuerer
auch politischer tragweite. Wir brauchen nothwendig eine große und glän-
zende residenz als centralpunkt für die intelligenz, die materiellen und
sonstigen interessen, ja selbst für vergnügen und geselligkeit, darin liegt
ein weit mächtigerer hebel der centralisation als in einem gewaltsamen,
todten Administrationsmechanismus. Aber schon der Beschluß selbst ist ein
interessantes politisches symptom, denn er beweist, daß man das bisherige
mißtrauen, die feindselige und gewaffnete stellung gegenüber den eigenen
unterthanen endlich fallen lassen will.
die finanzielle crisis scheint sich nach und nach, jedoch langsam, bessern
zu wollen, ob aber nicht noch rückfälle eintreten, ist zweifelhaft, denn der
öffentliche kredit nicht bloß in europa, sondern in der ganzen Welt ist tief
erschüttert, und der handel stockt überall, in indien scheint der krieg sich
in die länge ziehen zu wollen, mit china fängt es eben erst an,2 und in Per-
sien stoßen england und rußland eben wieder hart aufeinander. die han-
delskrisis in America scheint zwar vorüber, doch sind auch da die politischen
Aspecten nicht beruhigend. in europa endlich steht Alles auf schrauben. die
englischfranzösische Allianz löst sich, und louis napoleon wird immer mehr
isolirt, auch rußland zieht sich von ihm zurück, da dürfte dann bald irgend
1 das kaiserliche handschreiben, mit dem die Anordnung zur schleifung der stadtbefesti-
gungen und zur verbauung des glacis gegeben wurde, war mit 20.12.1857 datiert.
2 Zum indischen Aufstand vgl. eintrag v. 31.7.1857. der krieg zwischen china und den euro-
päischen seemächten england und frankreich erreichte ende dezember 1857 mit der Be-
schießung und einnahme von kanton einen ersten höhepunkt. die Auseinandersetzung
wurde – nach einem vorübergehenden, jedoch von chinesischer seite nicht eingehaltenen
vertrag vom Juni 1858 – erst im oktober 1860 beendet, als china die Zulassung euro-
päischer gesandtschaften und die öffnung des chinesischen marktes, vor allem für den
opiumimport, zugestehen musste.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien