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34531.
Jänner 1858
geltend zu machen, und wie ich noch unterwegs in regensburg von der bay-
erischen regierung durch lerchenfeld eigens und dringend darum angegan-
gen wurde, so z.B. meine vielen und merkwürdigen conversationen mit dem
erzherzog auf dieser reise, aus denen ich die überzeugung schöpfte, daß er,
so unwahrscheinlich dieß auch klingen mag, damals die hoffnung auf die
deutsche kaiserwürde für sich und seinen sohn nährte, und daß diese hoff-
nung ihn hauptsächlich bestimmte, seine Wahl zum reichsverweser anzu-
nehmen, so z.B. als ein Zeichen der damaligen Zeit, daß der leipziger stadt-
rath bey gelegenheit des Bankettes, welches er uns am Bahnhofe gab, mit
ernst und eifer darüber debattirt hatte, wem nach dem reichsverweser der
erste Platz an der tafel gebühre, dem könige von sachsen oder mir als re-
präsentanten der nationalversammlung, folglich des souveränen deutschen
volkes? so endlich die überzeugung lord Palmerstons noch ende novem-
ber, daß die Präsidentenwahl in frankreich am 10. december auf cavaignac
und nicht auf l. napoléon fallen würde, und zwar in folge der ganz ent-
schieden lautenden Berichte normanby’s, welche er mir zeigte, und hundert
andere détails.
im ganzen genommen, klebten mir damals zwey grundfehler an: eine
ziemliche dosis von einem gewissen sentimentalen liberalismus, welcher
die herrschende stimmung der 40er Jahre war und auch mich angesteckt
hatte, und von der ich mich im laufe des Jahres 1848, jedoch ziemlich lang-
sam, erholte, und dann die unpraktische, bockbeinige ungeduld, eine jede
vorliegende frage möglichst rasch zur entscheidung zu bringen, ich hatte
noch nicht gelernt, wieviel sich oft durch temporisiren erreichen läßt, indem
man seine gegner ermüdet und den rausch verfliegen läßt, darin bewährte
schwarzenberg im Jahre 1849 deutschland gegenüber seine meisterschaft,
ich aber glaubte in deutschland ebenso wenig als in oesterreich an die mög-
lichkeit, dass man noch hinter das Jahr 1848 zurückkommen könnte. die
frage lag vor, und ich wollte sie rasch gelöst wissen, um dann in ungarn,
italien und Böhmen freye hand zu haben, denn die allgemeine Weltlage zu
Anfang 1849 kam mir vielleicht noch drohender vor, als sie sich später ge-
staltete, und an die russische intervention konnte und wollte ich nicht den-
ken.
[Wien] 31. Jänner
ich gedenke, am 4. Abends auf einige Wochen nach venedig, vielleicht auch
mailand zu gehen, um mich von dem hiesigen einerley ein bischen zu erho-
len und wieder einmal südliche luft einzuathmen. seit 2 monathen gehe
ich mit einer italienischen reise schwanger und wäre sehr gerne nach rom
gegangen, aber so arm meine gegenwärtige existenz an hinreichender Be-
schäftigung und an sonstigem interesse ist, so haben mich doch eine menge
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien