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Tagebücher348
ich habe in diesen tagen, wie natürlich, eine unzahl von freunden und
Bekannten getroffen aus aller Weltgegenden, einheimische, hier lebende
und durchreisende, die einheimischen sind übrigens noch immer sehr zu-
rück gezogen, trennen sich von den deutschen, sey es nun aus haß oder weil
sie terrorisirt werden. in dieser Beziehung hat sich seit 1850 wohl etwas,
aber nur sehr wenig gebessert, und es ist kein vergleich mit dem gemüthli-
chen, rücksichtslosen, gänzlich unpolitischen Zusammenleben der 30er und
40er Jahre. übrigens verliert man dabey nichts, denn es ist kaum möglich,
in jeder Beziehung unbedeutender zu seyn, als es die venezianer sind. un-
ter den hier lebenden fremden praevenirt die österreichische nationalität
in ihrer weitesten Bedeutung: hohenlohe, Jablonowsky, nugent, Pallavi-
cini, strozzi, Alex. erdödy, gyulai, nandine karoly, Julie montenovo, her-
berstein, Ambrozy, fugger, Borkowski, falkenhayn, Bissingen, Berchtold,
Wrede, egger, Badenfeld, montecuccoli, oettingen-Wallerstein-larisch,
clary, degenfeld etc., lauter vortreffliche aber nicht sehr interessante men-
schen. mein alter freund Bissingen ist ein braver honnetter mensch, er-
scheint persönlich sehr beliebt, ohne jedoch große fähigkeiten zu besitzen.
Zwey grafen Pourtalès mit ihren frauen, wovon einer preußischer diplo-
mat war und einer der piliers der Prinzenpreußischen1 Partey ist, scheinen
interessanter zu seyn, bey diesen letzteren war vorgestern ein sehr hüb-
scher costumirter Ball. doch beschäftigt man sich hier beynahe gar nicht
mit Politik, spricht wenigstens nicht davon. Wer nach italien geht, thut es
eben, um nicht davon zu sprechen, sondern um sich zu erholen. das thue ich
denn auch, obwohl ich mich eigentlich von nichts zu erholen habe als vom
nichtsthun.
Auch trubetzkoi, taglioni etc. sind hier, ich habe meine Abende bisher ab-
wechselnd bei Pallavicini, Berchtold, trubetzkoi, im theater, welches jedoch
ziemlich schlecht ist, auf ein paar Bällen bey Bissingen und Pourtalès etc.
zugebracht, habe meine alten Bekannten besucht und mich gefreut, sie noch
am leben zu finden. Jetzt wäre ich so ziemlich fertig damit.
[venedig] 16. februar faschingsdienstag
das Wetter ist jetzt seit 5–6 tagen schön und rein, doch die Abende und
nächte noch ziemlich kalt, was auf den maskenlärm auf Platz und straßen
störend einwirkt. dennoch ist seit einigen tagen ein heidenspektakel, wel-
1 der preußische thronfolger Wilhelm Prinz v. Preußen hatte am 23.10.1857 zunächst als
stellvertreter, ab 7.10.1858 als regent die regierungsgeschäfte für seinen schwer kran-
ken Bruder friedrich Wilhelm iv. übernommen. graf Alexander Pourtalès, der seit 1854
hauptsächlich in venedig und der schweiz lebte, wurde von Wilhelm 1859 zum Botschafter
in Paris und 1860 zum mitglied des herrenhauses ernannt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien