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Februar 1858
der sich einen Anschein von loyalität zu geben und bey den einflußreichsten
Personen gut zu stellen gewußt hat, gegen den es also schwer ist aufzutre-
ten. ich glaube nicht, daß bey Zichy jetzt und in dieser speciellen Angelegen-
heit eine politische Arrierepensée mitwirkt, er ist lediglich der unterthänige
diener talabots, der Pariser kapitalisten und daher ihrer creaturen: der
französischen ingénieurs in italien und Biegler’s, und zwar aus bloßer ge-
winnsucht, daher er durch dick und dünn ihren Befehlen folgt, was er z.B.
erst vor ein paar monathen bewies, als vay aus italien mit einer ganzen
masse wohlbelegter und erwiesener Anschuldigungen wider die verwaltung
und den Betrieb der eisenbahnen vor den verwaltungsrath kam, und er es
dahin zu bringen wußte, daß die ganze sache im sande verlief.
[venedig] 20. februar
ich will morgen nachmittags nach verona fahren, dort übernachten, über-
morgen früh die etablissements der eisenbahn, Wagenfabrik etc. in Augen-
schein nehmen und dann nach mailand weiter fahren.
das Wetter ist seit Aschermittwoch wieder rauh und unfreundlich, es
weht eine eiskalte Bora, heute macht es sogar miene, wieder schneyen zu
wollen. für einen solchen italienischen Winter bedanke ich mich, übrigens
soll es jetzt in Wien auch nicht besser aussehen. doch leidet man unter ei-
nem solchen Wetter nirgends so wie hier, wo man auf das leben im freyen
angewiesen ist und zuhause friert.
der letzte faschingstag war recht animirt und schön, die cavalchina1 ein
reizender Anblick, wiewohl sehr wenig entrain, und was ich mir nicht hätte
träumen lassen, ich selbst ließ mich bewegen, en domino zu erscheinen.
malvine erdödy attakirte mich eine stunde vor dem Balle auf dem marcus-
platze, und ich konnte es ihr nicht abschlagen, sie in der maske zu begleiten,
obwohl es mir eigentlich sehr ungelegen war, wir fuhren also nach einem
souper bey erdödy dahin. Zum glücke gab sie mir nach einer stunde wieder
meine freyheit, nachdem Jedermann, den wir anredeten, uns gleich beym
ersten Worte erkannt hatte.
es ist nicht leicht ein größerer contrast denkbar als der zwischen der fie-
berhaften Aufregung und dem lärmen eines venezianischen carnevals und
der todtenstille der zunächst darauf folgenden tage, namentlich wenn auch
noch wie dießmal ein schlechtes oder doch rauhes Wetter dazukömmt.
die maßregeln der französischen regierung seit dem Attentate vom 14.
vorigen monats erhalten ganz europa in Aufregung und erwecken ein ge-
fühl der unsicherheit, wie dieses seit 5–6 Jahren nicht mehr vorhanden
war. ob dieses im interesse l. napoléons gelegen sey, bezweifle ich, und mir
1 maskenball im venediger carneval.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien