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Tagebücher354
Abends war ich meistens in der scala, einmahl im carcano, wo die Bocca-
badati die traviata hinreißend sang, heute bringe ich meinen letzten Abend
in zwey soiréen in den beyden feindlichen lagern zu: bey feri Zichy, wo ich
wahrscheinlich den rebut der mailänder Welt aller classen (d.h. die soge-
nannten gutgesinnten, leider ist dieser hier wie in venedig der schlechteste
theil der gesellschaft) sehen werde, und bey Zobel, wo die militärgesell-
schaft sich vereinigt.
den armen Pachta habe ich mehreremahle an seinem kranken- (und wohl
bald sterbe-) lager besucht, gelähmt, aber immer noch geistesfrisch und vol-
ler interesse und thätigkeit, es macht einen wehmüthigen eindruck, wie
das ganze interesse dieses sterbenden mannes sich noch immer auf einen
Punkt concentrirt, auf die österreichische herrschaft in italien. das ist auch
einer, aus dem zu anderer Zeit und unter andern institutionen etwas Be-
deutendes geworden wäre. er trennt sich schon vom leben und sagte mir
heute beym Abschiede mit sichtlicher Bewegung, daß er mich wohl nie mehr
sehen würde, und ich zweifle nicht daran.
Auch Julie samoyloff ist alt, niedergeschlagen und verändert, wie Anders
als sonst! Auch mit ihr geht es zu ende. nur meine alte freundinn carpani
ist, wenn auch älter geworden, doch immer noch lebhaft und geistreich wie
sonst.
Wie gesagt, es ist eine neue Welt, die hier sich geltend macht, und jeden-
falls eine solche, die weit unbedeutender, weit leerer, weit mehr canaille ist
als die, welche ich hier vor 1848 gekannt habe.
Wien 10. märz
Am 27. vorigen monats früh verließ ich mailand, fuhr mit rothkirch bis
verona, dann nach venedig, wo ich Abends ankam und im hôtel victoria
abstieg. Am Abende vorher hatte ich zwey soiréen in den beyden feindli-
chen (!) deutschen lagern mitgemacht, bey feri Zichy, wo ich einige alte
mailänder, wie rosini, Bolognini, greppi etc., piliers des ehemaligen vice-
königlichen hofes fand, welche ein wahres freudengeschrey erhoben, als
sie meiner ansichtig wurden, nach gabrielle fragten etc. dann fürstinn Au-
guste Auersperg, louise gudenau sammt töchtern1 etc. das ist die „italie-
nische Parthey“, welche der erzherzog sich einbildet geschaffen zu haben.
Bey Zobel waren außer Julie samoyloff ausschließlich militärs und deren
frauen und töchter, darunter Prinz Alexander von hessen sammt gräfinn
1 freiin louise gudenau hatte zwei töchter aus ihrer ersten ehe mit graf Wilhelm chotek
(1803–1850). Andrian kannte sie aus Brünn, ihre Mutter Gräfin Ernestine Ugarte, geb.
Gräfin Troyer, war eine Schwägerin seiner Tante Josepha Troyer, geb. Gräfin Fünfkirchen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band III
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- III
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 476
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien