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4Kapitel
Georg stand am Fenster. Gerade darunter wölbten sich die steinernen Rücken
der bärtigen Riesen, die auf gewaltigen Armen das verwitterte Adelswappen
eines längst versunkenen Geschlechtes trugen. Gegenüber, aus dem Dunkel
uralter Häuser hervor, kam die Stiege geschlichen, bis vor das Tor der grauen
Kirche, die im Flockenfall wie hinter einem wallenden Vorhang verdämmerte.
Das Licht einer Straßenlaterne auf dem Platz schimmerte blaß durch den
sinkenden Tag. Noch stiller an diesem Feiernachmittag als sonst ruhte unten
die beschneite Straße, die mitten in der Stadt und doch abseits von allem
Treiben hinzog. Und wieder einmal, wie stets, wenn er die breite Treppe des
alten zum Mietshaus gewordenen Palastes emporgestiegen und in das
geräumige, niedrig gewölbte Zimmer getreten war, fühlte Georg, seiner
gewohnten Welt entronnen, sich wie zum andern Teile eines wundersamen
Doppeldaseins eingegangen.
Er hörte einen Schlüssel in der Türe knirschen und wandte sich um. Anna
trat ein. Georg schloß sie beglückt in die Arme und küßte sie auf Stirn und
Mund. Die dunkelblaue Jacke, der breitrandige Hut, die Pelzboa, alles war
ganz beschneit.
»Du hast ja gearbeitet«, sagte Anna, während sie ablegte, und wies auf den
Tisch, wo neben der grünbeschirmten Lampe beschriebene Notenblätter
lagen.
»Das Quintett hab ich mir durchgesehen, den ersten Satz. Es ist doch noch
manches daran zu machen.«
»Aber dann wird’s wunderschön sein.«
»Das wollen wir hoffen. Kommst du von Hause, Anna?«
»Nein, von Bittners.«
»Wie, heut am Feiertag?«
»Ja. Die zwei Mädeln haben durch die Masern viel versäumt, das muß
nachgeholt werden. Ist mir übrigens sehr angenehm, schon aus finanziellen
Gründen.«
»Die Riesensumme!«
»Und dann entgeht man wenigstens auf ein paar Stunden dem ›trauten
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik