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5Kapitel
Georg öffnete ganz leise die Türe zu Annas Zimmer. Sie lag noch schlafend
im Bette und atmete tief und ruhig. Er begab sich aus dem leicht verdunkelten
Raum wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Türe. Dann trat er ans
geöffnete Fenster und schaute hinaus. Über dem Wasser schwebte
sonnenschimmernder Nebel. Die Berge drüben, mit reingezogenen Linien,
schwammen in Himmelsglanz, und über den Gärten und Häusern von Lugano
flimmerte das hellste Blau. Georg war wieder ganz beseligt, diese
Junimorgenluft einzuatmen, die vom See die feuchte Frische und von den
Platanen, Magnolien und Rosen im Hotelpark den Duft zu ihm emportrug;
diese Landschaft anzuschauen, deren Frühlingsfriede ihn nun seit drei
Wochen jeden Morgen wie ein neues Glück begrüßte. Rasch trank er seinen
Tee aus, lief die Treppe so schnell und erwartungsvoll hinab, wie er einst als
Knabe zum Spiel geeilt war, und im grauen Dufte der Frühschatten schlug er
den gewohnten Weg längs des Ufers ein. Hier gedachte er seiner einsamen
Morgenspaziergänge in Palermo und Taormina im vergangenen Frühjahr, die
er oft auf viele Stunden ausgedehnt hatte, da Grace gern bis Mittag mit
offenen Augen im Bett lag. Fast umdüstert erschien ihm in der Erinnerung
jene Zeit seines Lebens, über der ein naher Abschied, wenn auch manchmal
herbeigewünscht, doch wie eine trübe Wolke gelastet hatte. Diesmal schien
ihm alles Schmerzliche in weiter Ferne zu liegen, und jedenfalls war es in
seiner Macht, ein Ende, wenn es nicht vom Schicksal selber kam, so weit
hinauszuschieben, als er wollte.
Anfang März war er mit Anna aus Wien abgereist, da ihr Zustand kaum
länger zu verbergen war. Doch schon im Januar hatte sich Georg
entschlossen, mit ihrer Mutter zu sprechen. Er hatte sich einigermaßen
vorbereitet, und so vermochte er seine Mitteilungen in ruhigen und
wohlgesetzten Worten vorzubringen. Die Mutter hörte still zu, und ihre Augen
wurden groß und feucht. Anna saß auf dem Diwan mit befangenem Lächeln
und betrachtete Georg, während er sprach, mit einer Art von Neugier. Der
Plan für die folgenden Monate war entworfen. Bis zum Frühsommer wollte
Georg sich mit Anna im Auslande aufhalten, dann sollte in der Umgebung
von Wien ein Landhaus gemietet werden, so daß in der schwersten Zeit die
Mutter nicht fern wäre und das Kind ohne Schwierigkeiten in der Nähe der
Stadt in Pflege gegeben werden konnte. Auch eine Erklärung von Annas
Abreise und Fernbleiben für unberufene Neugierige war ausgedacht. Da ihre
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik