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8Kapitel
Frau Golowski kam aus dem Hause. Georg sah sie vom obern Ende des
Gartens aus auf die Veranda treten. Erregt eilte er ihr entgegen, aber schon
wie sie ihn von ferne gewahrte, schüttelte sie den Kopf.
»Noch nicht?« fragte Georg.
»Der Professor meint«, erwiderte Frau Golowski, »eh es dunkel wird.«
»Eh es dunkel wird«, sagte Georg und sah auf die Uhr. »Und jetzt ist es erst
drei.«
Sie reichte ihm teilnahmsvoll die Hand, und Georg blickte ihr in die guten
etwas übernächtigen Augen. Die durchsichtigen weißen Vorhänge vor Annas
Fenster wurden eben leicht zurückgeschlagen. Der alte Doktor Stauber
erschien in der Fensteröffnung, warf Georg einen freundlich-beruhigenden
Blick zu, verschwand wieder und die Vorhänge fielen zu. Im großen
Mittelzimmer am runden Tische saß Frau Rosner. Georg nahm von der
Veranda aus nur die Umrisse ihrer Gestalt wahr; ihr Gesicht war ganz
umschattet. Wieder drang ein Wimmern, dann ein lautes Stöhnen aus dem
Zimmer, in dem Anna lag. Georg starrte zum Fenster hin, wartete eine Weile,
dann wandte er sich ab und ging, zum hundertstenmal heute, den Weg hinauf
zum obern Gartenende. Offenbar ist sie schon zu schwach, um zu schreien,
dachte er; und das Herz tat ihm weh. Zwei volle Tage und zwei volle Nächte
lag sie in Wehen; der dritte neigte sich zum Ende, – und nun sollte es noch
dauern, bis der Abend kam! Schon am Abend des ersten Tages hatte Doktor
Stauber einen Professor beigezogen, der gestern zweimal dagewesen und
heute seit Mittag im Hause war. Während Anna auf ein paar Minuten
eingeschlummert war und die Wärterin an ihrem Bette wachte, war er mit
Georg im Garten auf und ab gegangen und hatte versucht, ihm den Fall in
seiner ganzen Eigentümlichkeit zu erläutern. Zur Besorgnis sei vorläufig kein
Grund vorhanden, immer noch höre man die Herztöne des Kindes
vollkommen deutlich. Der Professor war ein noch ziemlich junger Mann, mit
langem, blonden Bart, und seine Worte träufelten lind und gütig, wie Tropfen
eines schmerzstillenden Medikaments. Der Kranken sprach er zu wie einem
Kind, strich ihr über Stirn und Haare, streichelte ihre Hände und gab ihr
Schmeichelnamen. Von der Wärterin hatte Georg erfahren, daß dieser junge
Arzt an jedem Krankenbett von gleicher Hingebung und Geduld erfüllt wäre.
Welch ein Beruf, dachte Georg, der sogar während dieser drei schlimmen
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik