Kraus, Karl #
* 28. 4. 1874, Gitschin (Jicín), Tschechische Republik
† 12. 6. 1936, Wien
Essayist, Lyriker, Dramatiker, Aphoristiker
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und Fabrikanten in Jicín geboren. 1877 übersiedete die Familie nach Wien, wo er Volksschule und Gymnasium besuchte.
Er studierte an der juristischen und philosophischen Fakultät der Universität Wien. Sein Interesse galt vor allem der zeitgenössischen Literatur und dem Theater, er versuchte sich erfolgslos als Schauspieler, seine Lesungen aber fanden großen Anklang.
Schon mit seiner ersten satirischen Publikation "Die demolirte Literatur" (1897) - eine Anspielung auf den Abbruch jenes Hauses, in dem das Café Griensteidl untergebracht war, wo sich die Schriftsteller des "Jung Wien " trafen - stellte Kraus seine spitze Feder und seinen treffenden Witz unter Beweis. 1898 griff er mit "Eine Krone für Zion" nicht nur Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus, an, sondern auch den Zionismus selbst. Nach Abbruch seines Studiums gründete Karl Kraus 1899 die Zeitschrift "Die Fackel", die er bis 1936 herausgab; ab 1911 erschien die Zeitschrift ausschließlich mit seinen eigenen Texten.
"Die Fackel" sollte sich zu einer der bedeutendsten kritischen und satirischen Zeitschriften des 20. Jahrhunderts entwickeln. Die Gesamtausgabe umfasst etwa 21.000 Seiten. In den ersten Jahren deckte K. in seiner Zeitschrift immer wieder Skandale auf.
Seine engagierte Kultur-, Ideologie- und Sprachkritik richtete sich vor allem gegen einen verlogenen, sensationsheischenden Journalismus, gegen bürgerliche Doppelmoral ("Sittlichkeit und Kriminalität", 1908) und skrupellose Kriegstreiberei, aber auch gegen jedwede ethisch und ästhetisch fragwürdige Literatur ("Literatur und Lüge", 1929).
In seinem Drama "Die letzten Tage der Menschheit" (1918/1919) zeigt Karl Kraus den 1. Weltkrieg als Panoptikum menschlicher Dummheit und Gemeinheit, er zeichnet ein umfassendes Bild des Krieges im Hinterland und an der Front. Ausschnitte daraus hat Kraus während der zwanziger Jahre immer wieder bei Lesungen vorgetragen.
Nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusste Kraus maßgeblich das literarische Leben im deutschsprachigen Raum
"Mir fällt zu Hitler nichts ein." Dieser erste Satz in "Die dritte Walpurgisnacht" wird häufig zitiert, um Kraus‘. Schweigen gegenüber dem Nationalsozialismus zu belegen, wobei unterschlagen wird, dass sich er sich schon in den 1920er Jahren kritisch zum Nationalsozialismus äußerte. Die Ermordung von Dollfuß im Juli 1934 im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuches traf den kranken Kraus dementsprechend schwer. Die „Fackel" erschien über einen längeren Zeitraum nicht. Seine Vorlesungen, die von Gegnern gestört wurden, verlegte Kraus in den privaten Bereich, im April 1936 fand die 700. Vorlesung statt.
Am 12. Juni 1936 starb K. an einem Herz- und Gehirnschlag.
Werke (Auswahl)#
Essays:- Die Chinesische Mauer, 1910
- Nestroy und die Nachwelt, 1912
- Weltgericht, 2 Bände, 1919
- Untergang der Welt durch schwarze Magie, 1922
- Dritte Walpurgisnacht, 1934
Aphorismen:
- Sprüche und Widersprüche, 1909
- Pro domo et mundo, 1912
- Nachts, 1919.
Dramen:
- Wolkenkuckucksheim, 1923
- Traumtheater, 1924.
Lyrik:
- Worte in Versen, 9 Bände, 1916-30
Ausgaben:
- Werke, herausgegeben von H. Fischer, 14 Bände, 2 Supplementbände, 1954 bzw. 1970
- Die Fackel, 39 Bände, 1 Supplementband, 1968-77 (Nachdruck)
- Schriften, herausgegeben von C. Wagenknecht, 20 Bände, 1986-91.
Leseprobe#
aus Karl Kraus - "Vor dem Schlaf"
So spät ist es, so späte,
Was werden wird, das weiß ich nicht.
Es dauert nicht mehr lange.
Mir wird so bange,
Und seh in der Tapete
Ein klagendes Gesicht.
Allein bin ich, alleine,
Was außerhalb, ich weiß es nicht.
Ach, daß mir’s noch gelänge,
Mit wird so enge,
Und seh in jedem Scheine
Ein fragendes Gesicht.
Nun bin ich schon entrissen,
Was da und dann, ich weiß es nicht.
Ich kann sie nicht behalten,
Die Wahngestalten;
Und fühl in Finsternissen
Das sagende Gesicht.
Artikel aus dem Buch "Große Österreicher"#
Selbst wenn er nur »Die letzten Tage der Menschheit« geschrieben hätte, wäre Karl Kraus zum Mythos geworden. Selbst wenn er nur der große Sprachkünstler gewesen wäre, jener Mann, der aus vollster Überzeugung die Meinung vertrat, die Verlotterung vor allem des geschriebenen Worts sei ein Zeichen des Verfalls - »Der wahre Feind der Zeit ist die Sprache«, hat er einmal formuliert -, wäre er seines Nachruhms würdig gewesen. Selbst wenn er nichts anderes gewesen wäre als der große Journalistenhasser oder der geistreiche Satiriker oder der politische Philosoph - Karl Kraus hätte in einer Welt, die in jeder Beziehung klein geworden war, als Genie gegolten. Er aber ist alles gleichzeitig gewesen. Er war, wie es Karel Capek ausdrückte, ein »Moralphilologe«. Er ist - laut Oskar Kokoschka - »abgestiegen zur Hölle, zu richten die Lebendigen und die Toten«. Er war ein strenger, gewiss auch ein selbstgerechter Richter. Viele meinen, Karl Kraus habe sich überlebt. Andere glauben, was unserer Zeit fehle, seien gerade Geister wie dieser. Sie sind die Mehrheit.
Der Mann, den die Nachwelt vor allem als Autor der »Fackel« kennt, dieser Zeitschrift, die Karl Kraus geschaffen, zumeist ganz allein geschrieben und jedenfalls als Instrument, als Waffe verwendet hat - dieser Mann ist bis zu einem gewissen Grad der Widerspruch in sich selbst gewesen. Kontraste und Konfrontationen ziehen sich durch sein ganzes Leben. Schon dass er, der überzeugte Pazifist, im böhmischen Jicin zur Welt kam, jener Stadt, in der Wallenstein vorzugsweise lebte und wo der große kaiserliche Feldherr auch begraben ist, mutet als Kontrast an. Im Elternhaus war Bismarck, der eiserne Kanzler, abgestiegen. In Wien, wohin die Familie - Jakob Kraus, der Vater, war ein wohlhabender jüdischer Papierfabrikant - 1877 übersiedelte, besuchte Karl neben der Oberstufe des Gymnasiums auch eine Schauspielschule. Er brauchte Publikum. Solange er lebte, musste er, der Einzelgänger, ein Visavis haben, je umfangreicher, desto besser. Karl Kraus maturierte am selben Tag wie Hugo von Hofmannsthal. Im Beethovenpark trafen sie einander nach der Prüfung und feierten die neugewonnene Freiheit. Wie Hofmannsthal war auch Kraus schon damals Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften, zumeist mit kleinen Kritiken und literarischen Beiträgen. Die Entscheidung, ob er Schauspieler oder Journalist werden sollte, nahm ihm das Schicksal ab: bei einer »Räuber«-Aufführung in einem Vorstadttheater wurde er als Franz Moor ausgelacht und ausgepfiffen. Seine Vortragskunst hat Karl Kraus trotzdem produziert: er wurde nicht nur ein Meister des geschriebenen, sondern auch des gesprochenen Wortes, ein nahezu perfekter Vorleser. Stundenlang hat er eine vielköpfige Menschenmenge in Bann halten können. Die dänische Schriftstellerin Karin Michaelis beschrieb eine Kraus-Vorlesung im Jahr 1911: »Der Saal ist bis zum letzten Platz voll. ... Alle Lichter sind verlöscht. Nur da oben auf dem grün bekleideten Tisch leuchten zwei vereinzelte Kerzen. … Nun kommt Karl Kraus. Jung, mit langen unbeherrschten Gliedern, scheu wie eine Fledermaus eilt er an den Tisch, verschanzt sich bang hinter ihm, kreuzt die Beine, streicht sich über die Stirn, putzt sich die Nase, sammelt sich wie ein Raubtier zum Sprung, lauscht, wartet. ... Seine nervösen Hände fahren über die mitgebrachten Arbeiten. Er fängt an, hart, nachdrücklich, energisch, bezwingend, durch Überzeugung bezwingend. Hätte er chinesisch oder persisch gesprochen, man wäre mit der gleichen Spannung gefolgt.« Insgesamt hat Karl Kraus 700 Vorlesungen gehalten - nicht nur aus eigenen Werken las er, sondern auch Liliencron, Wedekind, Shakespeare. Immer wieder suchte er, brauchte er das, was der Journalismus nicht bieten kann: den persönlichen Kontakt mit dem Gegenüber, das man adressiert.
Den Journalismus selbst, den kämpferischen, aggressiven, führte er in der »Fackel« zur Perfektion. Vorher hatte er zeitweilig auch, als freier Mitarbeiter, für die »Neue Freie Presse« geschrieben. Die Zeitung bot ihm schließlich den Posten des verstorbenen Literaturkritikers Daniel Spitzer an. Kraus lehnte ab. Zwar riet ihm ein Freund, Maximilian Harden, der Herausgeber der »Zukunft«, die Kraus sehr schätzte, dazu: Die Neue Freie Presse sei »als Sprungbrett nicht zu verachten. Man kann sich auch bücken, um besser und weiter springen zu können.« Doch Kraus, der zu dieser Zeit bereits Hassgefühle gegen das Weltblatt der Monarchie und dessen vermeintlichen Meinungsterror aufgebaut hatte, war anderer Auffassung: »Es gibt zwei schöne Dinge auf der Welt: der >Neuen Freien Presse< anzugehören oder sie zu verachten. Ich habe nicht einen Augenblick geschwankt, wie ich zu wählen hätte..«
Er wählte die »Fackel«. Schon im ersten Heft, das 1899 erschien, veröffentlichte Karl Kraus sein Motto: »Das politische Programm dieser Zeitschrift scheint somit dürftig; kein tönendes >Was wir bringen<, aber ein ehrliches >Was wir umbringen< hat sie sich als Leitwort gewählt.« Kraus wollte die Lüge, vor allem die journalistische, umbringen, die Phrasendrescherei, die Hohlheit des Zeitgeistes. Er befand sich in permanentem Rundumkampf, auch frühere Freunde - so den erwähnten Maximilian Harden - griff er an, den Journalisten Alfred Kerr, den er bezichtigte, die Privatsphäre unzulässigerweise verletzt zu haben, und am meisten Imre Bekessy, den Herausgeber und Chefredakteur der »Stunde«. Die Auseinandersetzung der beiden gilt als ein Höhepunkt der neueren österreichischen Pressegeschichte. Zum geflügelten Wort wurde der Titel, den Bekessy über eine Sammlung von seiner Meinung nach unverständlichen, weil langatmigen Sätzen aus Kraus-Artikeln setzte: »Wos will er?« Prompt replizierte Karl Kraus in der »Fackel«: »Hinaus aus Wien mit dem Schuft! Dos will er.«
Polemik ist der Inhalt des journalistischen Lebens von Karl Kraus gewesen. Er meinte, Gift nur durch Gegengift bekämpfen zu können. Er war erbarmungslos, wenn es darum ging, die Sprache und damit die Wahrheit zu verteidigen. Privat war er ein introvertierter, zeitweilig überaus charmanter Mensch, aber er hat nie eine Familie gegründet: das Wort Familienbande, meinte er, habe einen fatalen Beigeschmack von Wahrheit. Seine Beziehungen zu Frauen endeten zumeist unglücklich, nur mit Sidonie Nadherny von Borutin, Schlossherrin in Janovice, verband ihn eine fast lebenslange Liebe. Er ist 1911 - im selben Jahr, da er begann, die Fackel ganz allein zu schreiben – zum katholischen Glauben übergetreten, der Architekt und Kunstkritiker Adolf [Loos|Biographien/Loos,_Adolf] war sein Taufpate. Mit dem Bemerken »Ich mische mich nicht in meine Privatangelegenheiten« verzichtete Karl Kraus darauf, seinen Religionswechsel zu publizieren - den er nach dem Ersten Weltkrieg wieder rückgängig machte. Die Gründe dafür werfen ein bezeichnendes Licht auf den kritischen Geist des »Fackel«-Herausgebers: Er trat wieder aus der Kirche aus, weil in Italien der Gottesmutter offiziell die Tapferkeitsmedaille verliehen worden war und in Salzburg der Erzbischof die Kollegienkirche zur Aufführung von Hofmannsthals »Großem Welttheater« zur Verfügung gestellt hatte, aus Fremdenverkehrsgründen, wie es hieß.
Karl Kraus hasste den Krieg - sein monumentales Werk »Die letzten Tage der Menschheit« ist der eindrucksvollste Beweis dafür - und er hasste jede Art von doppelbödiger Moral. Er war im Schwarzweißdenken verhaftet, auch in politischen Belangen. So verehrte er -was heute häufig vergessen wird - Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, nannte ihn den »kleinen Retter aus der großen Gefahr«, nämlich des Nationalsozialismus, und meinte, gegen ihn »keiner satirischen Anwandlung fähig« zu sein. Und im Mai 1933 schrieb er in Janovice, was seither gleichfalls zu einem der geflügelten Kraus-Worte geworden ist: »Mir fällt zu Hitler nichts ein. Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem Resultat längeren Nachdenkens und vielfacher Versuche, das Ereignis und die bewegende Kraft zu erfassen, beträchtlich hinter den Erwartungen zurückbleibe.« Es gehört zu den Schicksalhaftigkeiten des Menschenlebens, dass die Krankheit häufig dort zuschlägt, wo sie auch psychisch am meisten verwundet. Karl Kraus, der große literarische Denker, starb an Gehirnschlag. Der Tod befreite ihn von der Sorge, sich 1938 zu Hitler doch noch etwas einfallen lassen zu müssen.
Literatur#
- N. Wagner, Geist und Geschlecht, K. Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, 1982
- S. P. Scheichl und E. Timms, K. Kraus in neuer Sicht, 1986
- K. Krolop, Sprachsatire als Zeitsatire bei K. Kraus, 1987
- P. Schick, K. Kraus, 1999
- W. Welzig (Hg.), Wörterbuch der Redensarten zu der von K. Kraus 1899 bis 1936 herausgegeben Zeitschrift Die Fackel, 1999
- Neue Deutsche Biographie
Hörprobe#
Weiterführendes#
- Deutsch, R.: Licht aus der Fackel (Essay)
- Sedlaczek, R.: Nicht alles Gute kommt von Kraus (Essay)
- Historische Bilder zu Karl Kraus (IMAGNO)
Quellen#
- AEIOU
- Literaturhaus
- Karl-Kraus-Mailingliste (KKml)
- Große Österreicher, ed. Th. Chorherr, Verlag Ueberreuter, 256 S.
- DIE FURCHE
- Wiener Zeitung
- www.mediathek.at
Andere interessante NID Beiträge