Licht aus der Fackel #
Er wurde zur Legende, sein Werk zum Steinbruch, aus dem sich Ghostwriter, Zwergpolemiker und Stadtmarketing so schamlos wie ungestraft bedienen. Zum 75. Todestag von Karl Kraus.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (26. Mai 2011)
Von
Reinhard Deutsch
In wenigen Jahren, wenn die Jubiläumstage des Ersten Weltkrieges für eine entsprechende Publikationsflut sorgen, die jetzt schon aus den editorischen Startlöchern quillt, wird allenthalben auf den Spielplänen „Die letzten Tage der Menschheit“ auftauchen. Das überdimensionale Theaterstück von Karl Kraus, eigentlich „einem Marstheater zugedacht“, hat seine fulminante Bühnenwirksamkeit hinlänglich bewiesen. Nun, da sich am 12. Juni der Todestag von Karl Kraus zum 75. Male jährt, findet sich nichts. Doch vielleicht ist diese Kalenderdramaturgie auch nicht notwendig, denn Karl Kraus ist nicht vergessen, wichtiger noch – er ist lebendig geblieben in seinen Texten und in seiner Wirkung.
Zwischen seiner Geburt am 28. April 1874 in Gitschin/Böhmen und seinem Herztod 1936 in Wien liegt das Leben dieses vom Kampf um Wort und Wahrheit Besessenen. Er war Jude, aber aus der Kultusgemeinde ausgetreten. Er liebte die Menschen, aber er ließ es sie nicht wissen. Er suchte nach Freunden, aber die meisten fürchteten ihn. Karl Kraus war immer parteiisch, und gewiss hat er sich auch oft verrannt. In seinem riesenhaften Gesamtwerk waren manche Übergänge fließend. Zwischen dem 1. April 1899 und Februar 1936 erschienen die 922 Nummern der Fackel, Tausende Seiten, zum größten Teil (ab 1911 ausschließlich) von ihm selbst geschrieben.
Früher Aufklärungsjournalismus#
Die Sekundärliteratur über ihn füllt eine Bibliothek, und doch muss jede Generation wieder ihren eigenen Zugang zu seinem Werk suchen – ein Werk, das auf dem Buchmarkt noch lange nicht durchgesetzt ist (auch wenn es erfreulicherweise in einer umfassenden und erschwinglichen Ausgabe erwerbbar ist). Dankenswert: Die Akademie der Wissenschaften hat in einer großartigen Arbeitsleistung den „Fackel-Server“ eingerichtet. Damit ist nicht nur die gesamte Fackel online für jeden und kostenfrei greifbar und zugänglich, sondern auch in nie dagewesener Weise erschlossen. Die bisherigen Register der Ausgaben waren zwar herkulische Einzelleistungen, aber doch unvollständig. Nun ist das Werk wirklich da, in seiner unendlichen Vielschichtigkeit. Ausreden gelten nicht. Ein Werk, das neben der Fackel Essaybände, Gedichte, Briefe, Dramen, Kritiken, Übersetzungen und Bearbeitungen umfasst. Und Vorlesungen. 700 waren es insgesamt, in denen er leidenschaftlich für andere (Nestroy, Offenbach, Shakespeare) eintrat oder sich gegen sie wandte (Harden, Heine). Wie kein zweiter wetterte Kraus gegen die Käuflichkeit der Presse, unerschrocken nahm er eine Form des Aufklärungsjournalismus vorweg, die hierzulande erst spät Nachfolger gefunden hat.
In den zwanziger Jahren, als die Wiener Zeitungslandschaft von Imre Békessy dominiert war, in einer heute unvorstellbaren Art und Weise, gegen die heutige Boulevardauswüchse nahezu harmlos erscheinen mögen (allerdings auch nur innerhalb dieses Vergleichs …), führte Kraus beinahe einen Alleinfeldzug gegen die Käuflichkeit der Medien, gegen das Schweigen der Kartelle, gegen die Ablehnung, die auch weite bürgerliche Kreise gegen den Unruhestifter zeigten. Die Wirkung der kleinen roten Fackel-Hefte war groß – doch gleichzeitig erscheint sie aus heutiger Sicht überhöht. In den Erinnerungen so vieler Intellektueller, Dichter, Künstler spielt Die Fackel eine große Rolle, sie hatten sie im Ohr, wie etwa Canetti es nannte. Die Schilderungen der Lesungen erzählen von ungeheuren Abenden, oft im Konzerthaus, von dem Einmann-Theater am Lesepult, häufig mit kongenialer Klavierbegleitung wie etwa von Georg Knepler. Natürlich gab es nicht nur Bewunderer und Freunde. Kraus pflegte Feindschaften mit großer Sorgfalt, und die Polemiken mit Franz Werfel oder Anton Kuh („Der Affe Zarathustras“) sorgten für Tagesgespräch und literarischen Niederschlag.
Aufschrei über den moralischen Niedergang#
Es gibt Tonaufnahmen, ja es gibt sogar einen Film aus dem Jahr 1934 (ach welches Kino zeigt ihn, zu schweigen: welcher Sender …), an denen sich die Faszination erahnen lässt, der verbale Sturm, das Donnerwetter, mit dem Karl Kraus über seine Zuhörer hergefallen ist, wenn er ihnen Nestroy – den wir ohne ihn vielleicht immer noch für einen lustigen Vorstadtdichter halten würden – mit allen Rollen, in vielen Zungen vorlas, vorspielte, vorschrie, vorflehte. Seltsame Fügung, dass ein anderes Außenseitergenie der österreichischen Kultur, Helmut Qualtinger, als Einmannensemble „Die letzten Tage“ über viele Jahre der Vergessenheit hinweggerettet hat: dieses Stück, das ja wahrhaftig kein Text über den „Krieg der Großväter“ ist, sondern ein allgemeingültiger Aufschrei über den moralischen Niedergang der Menschen wie der Menschheit. Die Verrohung, die wachsende Gleichgültigkeit über gemordetes Menschenmaterial sind uns allen nicht fremd. Karl Kraus beschränkte sich bewusst auf den österreichisch- deutschen Aspekt, schließlich saß er mitten in Wien und hatte keine anderen Informationsmittel als die anderen auch, die Zeitungen und offiziellen Berichte, die Proklamationen und öffentlichen Auftritte, die Unsäglichkeiten und das Ungesagte.
Zwischen Polemik und Liebeslyrik#
So schrieb dieser „Phonograph der Melodien seiner Zeit“ bis in den kleinsten Tonfall hinein alles auf, was ihm wichtig erschien – und da konnte auch das Geringste Anlass bieten zur streitbaren Auseinandersetzung. Im Bild der Mit- und Nachwelt dominiert die Wahrnehmung des Sich-Einmischers, der den Polizeipräsidenten zum Rücktritt auffordert, des Polemikers, des einsamen Wolfes der nächtlichen Kaffeehausarbeit, der sich aufopfert in der jahrzehntelangen Erfüllung des selbst gewählten Sisyphus-Programmes. Dahinter ist der liebende, der zärtliche Mann ebenso verschwunden wie der Lyriker, dessen Shakespeare-Sonette Übertragungen von seltsamer Sprödigkeit sind. Kraus’ Briefe an Sidonie Nádherný, ein Liebesroman über 23 Jahre hinweg, lassen erkennen, zu welchen Gefühlen er wirklich fähig war.
Karl Kraus wirkt nach, sein Wort wird nicht verklingen. Mag auch die eine oder andere Polemik an Frische verloren haben, ein Werk wie „Die Dritte Walpurgisnacht“ wird in alle Ewigkeit Zeugnis ablegen von dem Mut, von der Klarsicht des Mannes, dem „zu Hitler nichts einfiel“ (wie gerne zitiert wird) und der diesem Satz einen tränenerstickten Aufschrei von einigen Hundert Seiten folgen ließ (wie gerne übersehen wird).
Kraus dient vielen als Steinbruch für Zitate, als gutsortierter Spenderautomat für billige Polemik, als Sammelstrand für Bildungsstrandgüter. O über die, die ihn zitieren, ohne wenigsten nachzusehen, was da wirklich steht, was da wirklich gemeint sein mag. Aber Kraus wird es aushalten.
Annäherung an einen Nahelosen #
„Weltgericht“, „Untergang der Welt durch schwarze Magie“, „Die letzten Tage der Menschheit“, „Sittlichkeit und Kriminalität“ – es geht in den Kraus’schen Büchern immer um das Ganze, das sich im Kleinsten wiederfi nden mag. Der unscheinbarsten Zeitungsnotiz lauscht er ein Drama ab, das scheinbar größte Drama vermag er auf einen Nebensatz zu reduzieren, indem er ihm die heiße Luft auslässt. Vor hundert Jahren beklagte er schon Engstirnigkeit, Lieblosigkeit, fehlende Zivilcourage als die Elemente des Niedergangs. Es ist bestürzend und faszinierend zugleich, festzustellen, dass sich nicht nur die Menschen nicht geändert haben. Auch der Wortlaut der Brutalität, der Verachtung, der Vernichtung ist gleich geblieben. Das „blutgemütliche Etwas“ nistet in der sinnleeren Sprachhülse von mancher Politik, Werbung, Publizität.
Kraus-Lektüre stärkt das seelische Immunsystem. Und das ist gar nicht wenig für einen Dichter, der vor 75 Jahren gestorben ist.