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Lammasch, Heinrich #

* 21. 5. 1853, Seitenstetten

† 6. 1. 1920, Salzburg


Rechtsgelehrter, Völkerrechtsexperte, Pazifist
letzter k.k. Ministerpräsident


Lammasch
Heinrich Lammasch
© Bildarchiv der ÖNB, Wien, für AEIOU

Heinrich Lammasch wurde 1853 in Seitenstetten (Nieder-Österreich) als Sohn eines Notars geboren.

Er studierte in Wien Jus, habilitierte sich 1879 für Strafrecht und wurde 1882 an die Universität Innsbruck berufen, ab 1885 war er dort o. Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, 1889 erhielt er die Professur an der Universität Wien für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht.

1899 wurde er von Kaiser Franz Josef I. zum Mitglied des Herrenhauses ernannt, wo er sich keiner der großen Parteien anschloss, und je nach seiner Überzeugung einmal mit der Rechten, ein anderes Mal mit der Linken stimmte. Als Berater Erzherzog Franz Ferdinands machte er Vorschläge, wie die unhaltbare Situation der benachteiligten Völker nach dem Tod von Franz Joseph beendet werden könnte. 1897 wurde er Mitglied in der Ministerialkommission für ein neues Strafgesetzbuch und dort zur treibenden Kraft bei der Ausarbeitung eines neuen Strafrechts, dessen Entwurf 1912 vom Herrenhaus angenommen wurde.

Er war 1899 und 1907 Berater der österreichisch-ungarischen Delegation bei der Haager Friedenskonferenz und wurde 1900 Mitglied des Internationalen Schiedshofs in Den Haag, wo er dreimal als Präsident amtierte. Seine erfolgreiche Tätigkeit bei der Beilegung mehrerer internationaler Konflikte hat seine Reputation auch international begründet und ihn in seinem Bestreben bestärkt, Streitigkeiten zwischen Staaten durch internationale Schiedsgerichte nach Grundsätzen beizulegen, die zur allgemeinen Anwendung geeignet sind.


Friedensbewegung und Völkerbund

Durch seine Arbeit in Haag war Lammasch mit der Friedensbewegung in Kontakt gekommen und schloss sich ihr an. Im Gegensatz zu anderen Proponenten dieser Bewegung wie Alfred Hermann Fried und Bertha von Suttner war er in hohen Staatsämtern tätig. Suttner begrüßte zwar die erfolgreiche Tätigkeit des Schiedsgerichts, vertrat aber sonst einen eher romantischen Pazifismus. Lammasch hingegen betonte die Notwendigkeit internationaler Organisationen und des Ausbaus des Völkerrechts zu einem Instrument der kollektiven Sicherheit. ("Ich glaube nicht an den ewigen Frieden, aber ich werde alles tun, ihn herbeizuführen.") Trotz mancher Konflikte arbeiteten Lammasch und Suttner bei den Friedenskonferenzen zusammen und Lammasch war Nominator von Bertha von Suttner von 1901 bis 1905 für den Friedensnobelpreis.

Seine Mitgliedschaft in der Friedensbewegung brachte ihn in Konflikt mit den Kollegen an der Universität Wien, er lehnte deshalb auch die Annahme akademischer Ämter ab. Auch dem Österreichischen Generalstab war er verdächtig, dieser verlangte nach Kriegsausbruch seine Verhaftung, was aber durch ein Veto von Kaiser Franz Joseph verhindert wurde.

Noch in seinen letzten Lebensjahren setzte sich Lammasch für den Aufbau einer internationalen Organisation ein (Völkerbund) ein, sein letztes, von Hans Sperl herausgegebenes Buch hat den Titel "Völkerbund oder Völkermord".


Im Dienste der untergehenden Monarchie und der neuen Republik

Lange vor 1914 war Lammasch überzeugt, dass bei Fortdauer der bestehenden Politik ein Krieg unvermeidbar wäre und dass dies nur bei einer anderen außenpolitischen Ausrichtung der Monarchie verhindert werden könne. Wenige Wochen nach Kriegsausbruch 1914 forderte er internationale Untersuchungen über Verletzungen des Kriegsrechts, sehr wohl auch über die Erschießung von Zivilisten und Geiseln durch die k.u.k. Armee. Im gleichen Jahr wurde sein Antrag auf Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen angenommen.

Nach Wiedereinberufung des Reichrates durch Kaiser Karl hielt er dort ab Juni 1917 drei Reden, in denen er für einen Verständigungsfrieden eintrat, nach den Grundsätzen "Friede ohne Annexionen, Gleichberechtigung der Nationen, friedliche Schlichtung künftiger Differenzen". Lammasch wurde dabei niedergeschrien, auch die öffentliche Meinung war gegen ihn.


In den letzten Tagen der Monarchie erinnerte man sich wieder an Lammasch, an dessen Ehrlichkeit kein Zweifel bestand und der im Ausland und bei allen Parteien persönliches Vertrauen genoss. Kaiser Karl bot Lammasch die Ministerpräsidentschaft des noch verbliebenen Rests der Monarchie an. Noch im Jahr 1917 hatte Lammasch dieses Amt abgelehnt, weil er keine Chance sah, einen Friedensschluss gegen die vorherrschende Meinung durchzusetzen. Nun lehnte er nicht mehr ab, seiner Regierung, die auch als "Liquidationsministerium" bezeichnet wurde, gehörten unter anderem Josef Redlich und Ignaz Seipel an.

Als letzter Ministerpräsident der Monarchie war er siebzehn Tage im Amt und konnte nur noch erschüttert zur Kenntnis nehmen, dass das Ende des Vielvölkerreichs nicht mehr aufzuhalten war.

Sein Verdienst ist es, dass das Ende der Dynastie, die Auflösung der Monarchie und die Übergabe der Macht trotz der allgemeinen Erregung friedlich verlaufen sind. Nachdem sich die provisorische Nationalversammlung konstituiert hatte, wurden alle Empfehlungen an den Kaiser mit dem neu gebildeten Staatsrat abgesprochen. Lammaschs Persönlichkeit wurde sowohl vom Kaiser als auch von den Führern der revolutionären Bewegung als Vermittler anerkannt. Er arbeitete federführend an der Verzichtserklärung von Kaiser Karl mit, die Amtsgeschäfte wurden in bester Ordnung übergeben.

Im Mai 1919 trat Lammasch als erster für einen neutralen und unabhängigen Staat "Norische Republik" ein, dem er als neutralen Pufferstaat in der Mitte Europas eine wichtige Aufgabe mit einer aussichtsreicheren Zukunft beimaß "Zum Wohle Österreichs selbst und der Erhaltung des europäischen Friedens". Diese Meinung vertrat er bei der Friedenskonferenz in St.Germain, an der er in eher untergeordneter Rolle ab 13. Mai 1919 als juristischer Sachverständiger auf Wunsch der Österreichischen Regierung Renner teilnahm.

Nachdem sein Beitrag für die Wiener Zeitung "Neuer Tag" von der eigenen Delegationsleitung konfisziert worden war, weil diese den Anschluss an Deutschland erreichen wollte, ist er von dort unter Protest am 10. Juni vorzeitig abgereist. In seiner letzten Lebenszeit verfasste er noch den Entwurf eines Völkerbund-Vertrags.

Heinrich Lammasch starb am 6. Jänner 1920 und wurde in Aigen bei Salzburg bestattet, sein Grab befindet sich seit 1957 in Bad Ischl.

Stefan Zweig berichtete seinem Freund, dem französischen Humanisten und Nobelpreisträger Romain Rolland über das Begräbnis: "Nie im Leben habe ich eine solche Beerdigung gesehen, so ärmlich, so traurig, wir waren fünf Personen am Grab eines ehemaligen Ministerpräsidenten eines Dreißig-Millionen-Landes, des großen und berühmten Gelehrten".

Heinrich Lammasch
Büste von Michael Drobil
Universität Wien, Arkadenhof

Heinrich Lammasch musste den Zusammenbruch der Monarchie und das bittere Friedensdiktat von St. Germain aus nächster Nähe miterleben. Sein ganzes Leben hatte er sich bemüht, eine solch tragische Entwicklung, die er kommen gesehen hat, zu verhindern. Seine Vorschläge in dieser Richtung wurden jedoch nicht gewürdigt oder verstanden. Manche seiner Ideen wurden Jahrzehnte nach seinem Tod wieder aufgegriffen.

Seine Büste von Michael Drobil steht im Arkadenhof der Universität Wien, im 21. Wiener Bezirk wurde ihm eine Gasse gewidmet, in der deutschen Stadt Halle/Saale ist ein Platz nach ihm benannt, an seinem Geburtshaus in Seitenstetten wurde 2008 eine Gedenktafel angebracht.

Werke (Auswahl)#

  • Die Auslieferung wegen politischer Verbrechen, 1884
  • Auslieferungspflicht und Asylrecht, 1887
  • Grundriß des österreichischen Strafrechts, 1899
  • Das Völkerrecht nach dem Krieg, 1917
  • Der Friedensverband der Staaten, 1919
  • Der Völkerbund, 1919
  • Europas 11. Stunde, 1919

Literatur#

  • Marga Lammasch, Hans Sperl: Heinrich Lammasch- Seine Aufzeichnungen , sein Wirken, seine Politik, Franz Deutike, 1922
  • G. Oberkofler, Heinrich Lammasch (1853-1920) - Notizen zur akademischen Laufbahn des großen österreichischen Völker- und Strafrechtsexperten. Innsbruck, Archiv der Leopold-Franzens-Universität, 1993
  • K.-D. Lehmann (Hg.): Richard A. Bermann alias Alois Höllrigel; Österreicher-Demokrat-Weltbürger, K.G. Saur Verlag, München, 1995
  • B. Hamann: Bertha von Suttner, Piper 1986
  • J. Sachslehner: Der Infarkt, Pichler Verlag

Weiterführendes#

Quellen#

  • AEIOU
  • Furche
  • Österreichisches Biographisches Lexikon
  • Neue Deutsche Biographie



Redaktion: Dieter Köberl


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