Ein Pazifist zwischen allen Stühlen #
Vor hundert Jahren ist der letzte k. k. Ministerpräsident und überzeugte Friedenspolitiker Heinrich Lammasch gestorben. Demnächst wird seiner in Bad Ischl gedacht.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (12. März 2020)
Von
Dieter Köberl
„Ich glaube nicht an den ewigen Frieden. Aber ich möchte alles tun, ihn herbeizuführen.“ Dieser leidenschaftliche, aber nicht utopische Pazifismus prägte das Leben und Wirken von Heinrich Lammasch, dessen Todestag sich im Jänner zum 100. Mal jährte. Alle Bemühungen Lammaschs, dieses international angesehenen Rechtsgelehrten, letzten Ministerpräsidenten der untergehenden Monarchie und Mitglied des Internationalen Schiedshofes in Den Haag, waren von Verantwortungsbewusstsein und tiefer Humanität getragen.
Eine Gesinnung, die sich schon in Lammaschs 1887 erschienener Monografie zum Asylrecht zeigte. Zwei Jahre später wurde er Universitätsprofessor in Wien, dann Mitglied des Herrenhauses – des Oberhauses des österreichischen Reichsrates – und schließlich zur treibenden Kraft bei der Reform des Strafrechts. Der große Karl Kraus hatte die Missstände in diesem Bereich in einigen seiner besten Satiren scharf angeprangert und den „Lichtschein von Sozialpolitik“ gewürdigt, den er Lammasch zuschreibt. Zwischen den beiden sollte sich eine große gegenseitige Wertschätzung entwickeln, die 1899 begann und bis zum Tod von Lammasch 1920 anhielt.
Bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg hatte Heinrich Lammasch die Außenpolitik der Monarchie missbilligt. Zu Kriegsbeginn war er nahe daran, als Dissident eingesperrt zu werden. In seiner letzten Friedensrede im Reichsrat am 18. Februar 1918 sprach er sich für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen aus und warnte: „Der sogenannte Siegfriede wäre nur ein fauler Friede, wäre nur ein Waffenstillstand vor einem gewaltigen und entsetzlichen Waffengang. Für eine solche Frucht haben die Nationen nicht ihr Herzblut hergegeben. Der Lohn, den sie erwarten, ist […] ein gesicherter Friede.“ Lammasch wurde dabei niedergeschrien, die öffentliche Meinung war gegen ihn – von der liberalen Neuen Freien Presse bis zur christlich-sozialen Reichspost, deren Chefredakteur Friedrich Funder sich an der Kriegshetze beteiligte. Worunter der gläubige Katholik Lammasch besonders litt.
„Gutgeartetes Österreichertum“ #
Einer der wenigen, die sich an Lammaschs Seite stellten, war Karl Kraus. Er nennt Lammasch einen Mutigen, der seine Vaterlandsliebe mit seiner Popularität bezahle, einen idealen Realpolitiker, „den einzigen Völkerrechtslehrer, […] dem Wissenschaft und Gewissen vom Einmarsch in Belgien nicht überrannt worden sind“, „den Inbegriff des gutgearteten Österreichertums“, einen Patrioten im tieferen Sinn – während die politische Führung eigentlich Hochverrat begehe. Seine Rede „Für Lammasch“ schließt Kraus mit dem Satz: „So niedrig die Zeit ist, in der er lebt – er lebe hoch!“ In keinem anderen Text wird das „Ja“ dieses Neinsagers so deutlich wie in diesem. Die beiden führten Gespräche, in denen es um die Kriegsschuld des guten alten Kaisers, das „Verdienst“ der Presse am Ausbruch und der Verlängerung des Krieges sowie den Wunsch nach einem internationalen Gerichtshof ging.
Unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch Österreich-Ungarns wurde Lammasch von Kaiser Karl I. zum Ministerpräsidenten ernannt. In diesen letzten Tagen erreichte er die Zustimmung des Kaisers zu dessen Verzichtserklärung: Ein erster Schritt für ein würdiges Ende der Monarchie und den gemeinsamen Aufbau des neuen Staates war damit getan. Schließlich nahm Lammasch auf Wunsch der neuen Regierung auch an der Friedenskonferenz in St. Germain 1919 teil und warb für ein unabhängiges, neutrales Österreich und eine Kooperation der Nachfolgestaaten der Monarchie. Doch dies entsprach nicht dem Wunsch der meisten Delegierten, seine Briefe wurden deshalb von der eigenen Delegationsleitung beschlagnahmt – all dies wenige Monate nach der Aufhebung der Zensur in Österreich. Eine Diskussion seiner Vorschläge war nicht möglich. Lammaschs Anwesenheit war damit sinnlos geworden, er verließ St. Germain vorzeitig. „So macht man keinen Frieden!“, meinte er in einem Interview mit einer US-amerikanischen Zeitung resignierend.
In Vergessenheit geraten #
Wenige Monate später starb Heinrich Lammasch. In seinem Nachruf mit dem Titel „Lammasch und die Christen“ schrieb Kraus vom gebrochenen, aber wie eh und je kriegsfeindlichen Herzen dieses Mannes, als er ohne den Weltfrieden aus St. Germain zurückkommen musste. „Nach seinem Hingang bleibt der Wunsch zurück, dass die Zeit, die seines Lebens nicht würdig war, durch sein Andenken Ehre gewinnen möge“, hoffte Kraus. „Aber sie wird es nicht tun.“
Mit dieser Skepsis sollte er Recht behalten. Das Weltkriegsgedenken war zunehmend von Verdrängung und der „Dolchstoßlegende“ bestimmt, der Friedenspolitiker Lammasch geriet unter dem Eindruck der nationalistisch und militaristisch geprägten „Erinnerungskultur“ in Vergessenheit.
Wie sehr Lammasch am Ende seines Lebens die Entwicklungen bekümmerten, wird auch in einem Brief deutlich, den Stefan Zweig im Jänner 1919 an Romain Rolland schickte und in dem er von einem Besuch bei Lammasch berichtete: „Was ihn betrübt, ist, dass der Sieg, anstatt den Hass zu verringern, ihn noch mehr aufgestachelt hat. […] Aber hoffen wir noch, dass der Saft des Drachens in der Erde verfault.“ Eine vergebliche Hoffnung, wie man weiß: Vierzehn Jahre nach St. Germain errangen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht, und Zweig verließ Österreich 1934. Im Exil schrieb er seine Erinnerungen „Die Welt von Gestern“, die auch Zeugnis davon geben, welch tiefen Eindruck Lammasch auf ihn gemacht hat. Auch die Neue Zürcher Zeitung würdigte Lammasch noch zehn Jahre nach seinem Tod: „[…] er befürwortete die Stützung der neuen Republik durch den Völkerbund, indes die andern vom Anschluß träumten. Aber er kämpfte weiter. […] Er war völlig selbstlos, von tiefem Verantwortungsgefühl und sozialer wie politischer Einsicht. Er war – auch darin etwas Seltenes und Hohes – ein konservativer Reformer.“ 1942 setzte Zweig seinem Leben in Brasilien selbst ein Ende. In Würdigung seines Eintretens für ein friedliches Europa hat man kürzlich das Atrium des EU-Parlaments in Brüssel nach ihm benannt.
Karl Kraus reagierte auf den Umsturz von 1933 nur mit einem kurzen Gedicht – „Man frage nicht“ –, einem „Meisterwerk der Knappheit und Verzweiflung“, wie es der Schriftsteller Daniel Kehlmann nannte: „Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. / Ich bleibe stumm, / und sage nicht, warum. / Und Stille gibt es, da die Erde krachte. / Kein Wort, das traf; / man spricht nur aus dem Schlaf. / Und träumt von einer Sonne, welche lachte. / Es geht vorbei; / nachher war’s einerlei. / Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“
Drei Jahre später starb Karl Kraus, die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Österreich musste er nicht mehr erleben. Er hatte den Ersten Weltkrieg von Anfang bis zum Ende bekämpft, voll Hohn und Hass auf alle, die an der Führung des Krieges beteiligt waren. Auch Heinrich Lammasch hat diesen Krieg bekämpft, aber mit anderen Mitteln, mit Argumenten der Humanität und der Vernunft. Dieser Kampf war die gemeinsame Sache, um die es ihnen ging. Karl Kraus nannte ihn „unter Herrenhausmitgliedern die einzige fühlende Brust“ und (ohne Ironie) den „edlen Lammasch“.
Am 15. März (um 14 Uhr) findet nun für Heinrich Lammasch am Friedhof in Bad Ischl – Europas Kulturhauptstadt 2024 – eine Gedenkfeier mit Altbischof Maximilian Aichern samt anschließender Gedenkmesse statt. Eine späte Erinnerung an einen Mann, der sich bis zuletzt den klaren Blick bewahrt und für die Versöhnung zwischen den Völkern geworben hat.
Der Autor war am Zentralen Informatikdienst der Uni Wien tätig. Auf seine Initiative geht eine Gedenktafel am Geburtshaus Lammaschs in Seitenstetten zurück.