Nationalratswahl 2017 #
Die 26. Nationalratswahl in Österreich fand am 15. Oktober 2017 statt.
Stimmenstärkste Partei wurde die ÖVP unter Sebastian Kurz mit 31,5 % (Zuwachs von 7,5 Prozentpunkten). Die SPÖ mit Bundeskanzler Christian Kern lag mit 26,9 % auf dem zweiten Platz. Mit 26,0 % erreichte die FPÖ das zweitbeste Ergebnis ihrer Parteigeschichte und den dritten Platz. Zum Debakel wurde die Wahl hingegen für die Grünen, die von ihrem historisch besten Ergebnis auf 3,8 % abstürzten und aus dem Nationalrat, dem sie seit 1986 ohne Unterbrechung angehört hatten, ausschieden. Die NEOS verbesserten sich im Vergleich zu 2013 um einige Zehntelprozentpunkte, gewannen ein Mandat hinzu und wurden viertstärkste Kraft. Die Liste Peter Pilz des ehemaligen Bundessprechers der Grünen schaffte mit 4,4 % den Sprung über die Vier-Prozent-Hürde. Peter Pilz zog aber nicht in den Nationalrat ein. Das Team Stronach trat zur Wahl nicht mehr an. Von den übrigen Parteien erreichte keine ein Ergebnis über 1 %. Die Wahlbeteiligung war von 74,9 % auf 80,0 % gestiegen.
Wahlen im Schatten der Flüchtlingskrise#
Fritz Plasser/Franz SommerAusgewählte Befunde im Überblick#
1. Zerfall stabiler Parteibindungen: Innerhalb von dreißig Jahren hat sich der Anteil von Wählern mit einer
gefühlsmäßigen Bindung an eine bestimmte Partei halbiert. 2017 identifizierten sich nur mehr 34 Prozent der Wähler mit einer bestimmten Partei.2. Anstieg der Wechselwähler: Innerhalb von drei Dekaden hat sich der Wechselwähleranteil verdoppelt. Bei der Nationalratswahl 2017 wählte bereits jeder dritte Wähler eine andere Partei als bei der Nationalratswahl 2013.
3. Schrumpfende Stammwählerschichten: 2017 konnten nur mehr 27 Prozent der Wahlberechtigten als berechenbare Stammwähler einer Partei klassifiziert werden. Weitere 23 Prozent standen zwar einer bestimmten Partei tendenziell nahe, waren aber unter bestimmten Umständen bereit, ihre Stimme auch einer anderen Partei zu geben. 47 Prozent bezeichneten sich als mobile, parteiungebundene Wähler, die sich vor jeder Wahl neu entscheiden.
4. Unterschiedliches Wahlverhalten bei Nationalrats- und Landtagswahlen: Nur 27 Prozent haben in den letzten Jahren bei Nationalrats- und Landtagswahlen immer dieselbe Partei gewählt. 68 Prozent haben sich im Lauf der Zeit auch schon einmal für eine andere Partei entschieden. 1990 wählten noch 58 Prozent bei Wahlen immer dieselbe Partei, nur 26 Prozent wählten gelegentlich auch eine andere Partei. 1972 waren nur 8 Prozent gelegentliche Wechselwähler.
5. Rückgang der Parteimitglieder: 1986 deklarierten sich noch 23 Prozent als Mitglieder einer politischen Partei. 2016 waren es nur mehr 10 Prozent. Innerhalb von dreißig Jahren hat sich die Zahl der Parteimitglieder halbiert.
6. Abschmelzen der Kernsegmente der Parteien: 1990 besuchten noch 52 Prozent der ÖVP- Wähler (fast) jeden Sonntag den Gottesdienst. 2017 waren es nur mehr 26 Prozent. Zählten 1990 noch 80 Prozent der ÖVP-Wähler zu zumindest sporadischen Kirchgängern, waren es 2017 nur mehr 50 Prozent. Kirchennahe Katholiken stellten 2017 nur mehr die Hälfte der ÖVP-Wählerschaft, sind aber weiterhin ein loyales, aber schrumpfendes Kernsegment der ÖVP. Rückläufig ist auch das gewerkschaftlich organisierte Kernsegment der SPÖ. Wählten 1990 noch 62 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die SPÖ, waren es 2017 nur mehr 44 Prozent. Bereits 25 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Wähler entschieden sich für die FPÖ. Noch dramatischer ist im Zeitverlauf die Abwendung von Arbeitern und Arbeiterinnen von der SPÖ. 1983 wählten 61 Prozent die SPÖ. 2017 erhielt die SPÖ nur mehr 32 Prozent der Arbeiterstimmen, die sich mehrheitlich der FPÖ zuwandten.
7. Großflächige Unzufriedenheit mit der großkoalitionären Regierungsarbeit: Waren bei der Nationalratswahl 2013 51 Prozent mit der Regierungsarbeit unzufrieden, waren es 2017 bereits 72 Prozent.
8. Abwendung von der Großen Koalition: Wünschten sich bei der Nationalratswahl 1990 70 Prozent der am Wahltag befragten Wähler die Bildung einer Regierungskoalition aus SPÖ und ÖVP, waren es bei der Nationalratswahl 2006 nur 41 Prozent und bei der Nationalratswahl 2017 nur mehr 15 Prozent. Dies ist ein beispielloser Akzeptanzverlust eines Regierungsmodells.
9. Politische Vertrauenskrisen: 2017 war erstmals eine Mehrheit der Wähler mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Österreich funktioniert, unzufrieden. Nur 44 Prozent waren mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden, 54 Prozent waren unzufrieden. Unter FPÖ- Wählern waren 75 Prozent unzufrieden. Von den mit dem Funktionieren der österreichischen Demokratie Unzufriedenen wählten 39 Prozent die FPÖ. Misstrauen gegenüber politischen Eliten: 2017 vertrauten nur mehr 21 Prozent Politikern und Parteien voll und ganz. 60 Prozent hatten nur mehr wenig Vertrauen. 18 Prozent standen dem politischen Establishment gänzlich misstrauisch gegenüber.
10. Bruchlinie Flüchtlingskrise: Zerfall stabiler Parteibindungen, erhöhte Wechselbereitschaft, Unzufriedenheit mit der Regierungsarbeit, politische Vertrauenskrise und Abwendung von der Großen Koalition haben den Boden für einen Umbruch der politischen Landschaft aufbereitet. Vollzogen wurde der Bruch durch die Reaktionen der Wählerschaft auf die Flüchtlings- und Asylkrise, die seit September 2015 die öffentliche Aufmerksamkeit dominierte. Hatten im September 2013 nur 34 Prozent der Wahlberechtigten den Eindruck, dass sich Österreich in eine falsche Richtung entwickle, waren es im Jänner 2016 bereits 63 Prozent. 49 Prozent sahen die Ursachen der negativen Entwicklung in erster Linie bei Flüchtlings-und Asylproblemen. Die Flüchtlingskrise hatte die politischen Perspektiven verändert und den Blickwinkel auf ein epochales Krisenthema fokussiert, das alle anderen Themen und Problemlagen überlagerte.
11. Ausbreitung eines defensiv-restriktiven Meinungsklimas: Sahen im Oktober 2015 45 Prozent der Bevölkerung noch Möglichkeiten, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, waren es im Jänner 2016 nur 38 Prozent, im Mai 2016 30 Prozent und vor der Nationalratswahl 2017 nur mehr 18 Prozent. Restriktive Haltungen zu Flüchtlings- und Asylfragen korrelierten in erster Linie mit der Wahl der FPÖ und - etwas verhaltener - mit einer Stimme für die ÖVP.
12. Flüchtlingskrise überschattete Präsidentschaftswahlen: Die entscheidende Spaltungslinie zwischen den Wählerschaften von Van der Bellen bzw. Hofer waren konträre Einstellungen zu Flüchtlings- und Asylfragen. 90 Prozent derer, die noch weitere Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen sahen, wählten Van der Bellen. Zwei Drittel der Wähler, die restriktive Positionen vertraten, wählten Hofer. 90 Prozent der Hofer-Wähler plädierten für noch schärfere Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme. Von den Van der Bellen- Wählern hielten hingegen zwei Drittel die bereits gesetzten Maßnahmen für ausreichend.
13. Der Kurz-Effekt veränderte die wahlpolitische Ausgangslage: Ein demoskopischer Kurz-Effekt zeichnete sich bereits im Mai 2016 ab. Bei der Frage nach den Wahlabsichten deklarierten sich 21 Prozent als potenzielle ÖVP-Wähler. Mit der (hypothetischen) Variante konfrontiert, dass statt Mitterlehner Sebastian Kurz der ÖVP-Spitzenkandidat wäre, waren 34 Prozent bereit, die ÖVP mit Kurz an der Spitze zu wählen. Durch den Kurz-Effekt veränderten sich die demoskopischen Kräfteverhältnisse: Von der Flüchtlingskrise getragen, lag die FPÖ seit April 2015 mit 29 bis 30 Prozent an erster Stelle. Die ÖVP stagnierte noch in den ersten Mai-Tagen - knapp vor dem Rücktritt Mitterlehners - bei 21 bis 22 Prozent. Durch den Personalwechsel an der Spitze der ÖVP veränderte sich schlagartig die demoskopische Ausgangsposition. Sjatt 22 Prozent - wie noch Anfang Mai 2017 - waren mit Kurz an der Spitze 33 Prozent bereit, bei Nationalratswahlen der ÖVP ihre Stimme zu geben. Dies war eine beispiellose demoskopische Wanderungsbewegung. 47 Prozent der „Kurz-Wähler" hatten 2013 die FPÖ, das BZÖ bzw. das Team Stronach gewählt. 15 Prozent hatten die SPÖ gewählt, jeweils 8 bis 9 Prozent die Grünen bzw. die NEOS. 21 Prozent der „Kurz-Wähler" stammten aus dem Lager der Nichtwähler.
14. Kurz und die ÖVP dringen in Kompetenzfelder der FPÖ ein: Im Sommer 2017 dominierten unverändert Flüchtlings- und Asylfragen die Problemsicht der Bevölkerung. Durch den restriktiven Kurs von Kurz in Migrations- und Integrationsfragen konnte die ÖVP in thematische Kompetenzbereiche vordringen, die bislang weitgehend von der FPÖ besetzt waren.
15. Die Kurz-Strategie: Re-Framing kennzeichnete die Strategie von Sebastian Kurz, der Migrations- und Integrationsprobleme kausal mit problematischen Entwicklungen im Schulbereich, am Arbeitsmarkt wie einer drohenden Überforderung staatlicher Versorgungsleistungen in Verbindung setzte. Er näherte sich damit den krisenhaften Deutungen besorgter Wähler stärker an als die SPÖ, die ihrerseits versuchte, ihre traditionellen sozialen Kompetenz-Themen in den Mittelpunkt der thematischen Auseinandersetzung zu stellen. Die Linie von Kurz gegenüber illegaler Migration, Bekämpfung des Schlepperwesens und einer „Zuwanderung in das Sozialsystem" traf die Stimmungslage einer beunruhigten Wählerschaft und verlieh der ÖVP Kompetenzstärken in Themenfeldern, die weit außerhalb ihres traditionellen „Markenkerns" angesiedelt waren.
16. Wahlverhalten besorgter Wähler: Unter Wählern, denen die Probleme mit Flüchtlingen, Asylanten und Zuwanderern persönlich große Sorgen bereiteten (55 Prozent der Wähler), erhielt die FPÖ 41 Prozent der Stimmen. Bemerkenswert ist der vergleichsweise hohe Stimmenanteil der ÖVP in dieser besorgten und beunruhigten Wählergruppe. 33 Prozent entschieden sich für die ÖVP, nur 18 Prozent wählten die SPÖ.
17. Personalisierung der Wahlentscheidung: Am bedeutsamsten waren Kandidatenorientierungen unter ÖVP-Wählern. In Summe beziehen sich zwei Dritten der zentralen Wahlmotive von ÖVP-Wählern auf die Persönlichkeit des ÖVP-Kanzlerkandidaten. Unter Wählern, die von anderen Parteien zur ÖVP wechselten, spielte die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten eine noch stärkere Rolle. Deutlich geringer personalisiert waren die zentralen Wahlmotive der SPÖ-Wähler, bei denen sich Verweise auf den Spitzenkandidaten und Verweise auf thematische Kompetenzstärken der Partei die Waage hielten.
18. Negativer Kanzlerbonus: Erstmals in der neueren Wahlgeschichte Österreichs lag ein amtierender Bundeskanzler bei der (hypothetischen) Kanzlerdirektwahlfrage hinter seinem Herausforderer. Im Fall der Möglichkeit, den Bundeskanzler wie den Bundespräsidenten direkt wählen zu können, hätten nur 34 Prozent Christian Kern gewählt, aber 40 Prozent Sebastian Kurz ihre Stimme gegeben und 26 Prozent der Wähler hätten für keinen der beiden Kanzlerkandidaten votiert. Erstmals lag ein amtierender Kanzler sechs Prozentpunkte hinter seinem Herausforderer.
19. Restriktives Meinungsklima begünstigte Wahlchancen der FPÖ wie der ÖVP: Von Wählern, die die Aufnahmekapazität als bereits überfordert ansahen (73 Prozent der Wähler), wählten 35 Prozent die ÖVP und 34 Prozent die FPÖ. Für die SPÖ entschieden sich nur 22 Prozent. Restriktive Einstellungen zu Migrations- und Asylfragen korrelierten mit überdurchschnittlichen Stimmenanteilen für ÖVP und FPÖ, während Wähler mit offeneren und liberaleren Haltungen in Migrationsfragen (29 Prozent) mehrheitlich in Richtung SPÖ, NEOS, Grüne und Liste Pilz tendierten.
20. Anti-Establishment-Affekt: 48 Prozent der Wähler, die politischen Parteien und Eliten überhaupt nicht mehr vertrauten, wählten die FPÖ. Sie erhielt auch 39 Prozent der Stimmen jener Wähler, die mit dem Funktionieren der österreichischen Demokratie unzufrieden waren. Die politische Vertrauenskrise hat sich in der FPÖ-Wählerschaft zu einem Anti- Establishment-Affekt verdichtet.
21. Ökonomisch verunsicherte FPÖ-Wähler: 62 Prozent der FPÖ-Wähler fürchteten, in eine finanzielle Abstiegsspirale zu kommen, während nur jeder dritte Wähler der SPÖ bzw. der ÖVP von einer Verschlechterung seines derzeitigen Lebensstandards ausging. Die FPÖ wurde von einer Mehrheit der wirtschaftlichen Verlierer und Abstiegsgefährdeten gewählt. Insgesamt wurde jeder fünfte Wähler von ernsthaften finanziellen und sozialen Abstiegsängsten geplagt.
22. Sektorale ideologische Rechtsverschiebung: Die Selbsteinstufungen auf dem „Links-Rechts- Kontinuum" widerspiegeln eine moderate ideologische Polarisierung der Wählerschaft. 26 Prozent positionieren sich im linken Spektrum, 36 Prozent in der Mitte und 27 Prozent im rechten Spektrum. 52 Prozent der SPÖ-Wähler positionieren sich im linken Spektrum, 30 Prozent in der Mitte und 5 Prozent etwas rechts der Mitte. 45 Prozent der ÖVP-Wähler nehmen eine Mitte-Position ein, 32 Prozent positionieren sich im rechten Spektrum und 12 Prozent etwas links der Mitte. 51 Prozent der FPÖ-Wähler stehen im rechten Spektrum, 35 Prozent in der Mitte und nur 3 Prozent etwas links der Mitte. 50 Prozent der ideologisch rechts stehenden Wähler wählten die FPÖ, 37 Prozent die ÖVP. Ideologisch rechts stehende Wähler haben sich 2017 weit stärker als bei vergangenen Wahlen der FPÖ zugewandt. Das Profil der FPÖ-Wähler ist 2017 akzentuiert rechter geworden, während der Anteil recht gerichteter Wähler an der Wählerschaft insgesamt vergleichsweise konstant geblieben ist.
23. Ideologische Polarisierung zwischen Regierungs-und Oppositionswählerschaften: 40 Prozent der Wähler von ÖVP und FPÖ fühlen sich der politischen Mitte zugehörig, 41 Prozent stufen sich als rechts stehend ein, wobei sich akzentuierte Rechts-Orientierungen in der Wählerschaft der FPÖ konzentrieren. Die Wählerschaft der Oppositionsparteien positioniert sich mehrheitlich im linken Spektrum. 52 Prozent der Wähler der Oppositionsparteien sind ideologisch links gerichtet, 31 Prozent fühlen sich der politischen Mitte zugehörig.
24. Koalitionstaktisches Wählen: Zwei Drittel der Wähler wollten mit ihrer Stimme auch einen Beitrag zur Verhinderung einer bestimmten Koalitionsvariante leisten. Koalitionstaktische Überlegungen beschäftigten insbesondere Wähler der SPÖ wie Wähler der Grünen. Die wahlpolitische Implosion der Grün-Wählerschaft ist primär auf koalitionstaktische Überlegungen zahlreicher Grün-Wähler zurückzuführen, die aus taktischen Gründen - um eine schwarz-blaue Regierungsmehrheit zu verhindern - der SPÖ ihre Stimme gaben. Rund sechs Prozent der Wähler haben - um eine mögliche ÖVP+FPÖ-Koalition zu verhindern - 2017 einer Partei ihre Stimme gegeben, die sie normalerweise nicht wählen. Diese Partei war für die Mehrzahl der koalitionstaktischen Wähler die SPÖ. (Pressemitteilung vom 1.März 2018]
Diverse Aspekte des Ergebnisses
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