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Mehr Naturwisssenschaften in den Schulen?#

Dr. G. Rath, März 2017

Eine Frage, die aus mehrfacher Hinsicht kontroversiell zu sehen ist.

Zum ersten können die Naturwissenschaften nicht wirklich als eine Art Einheit gesehen werden, bzw. nur unter bestimmten Umständen. In der Primarstufe gibt es in praktisch allen Ländern zwar noch entsprechende integrative Gegenstände, in Österreich den „Sachunterricht“. Dazu gehören aber auch Bereiche der Gesellschaft, Geschichte oder Geographie. Erst in der Sekundarstufe erfolgt dann eine Auftrennung in Gegenstände wie Biologie, Chemie und Physik, manchmal wird aber auch die Mathematik oder die Geographie zu den Naturwissenschaftlichen Fächern gezählt.

Zum zweiten stellt sich die Frage, ob das „Mehr“ rein quantitativ zu sehen ist, und worauf sich die Zunahme beziehen kann. Vergleicht man hier Stundenzahlen von früher mit heute, oder zwischen einzelnen Schultypen oder Ländern? Oder geht es um andere Ressourcen, Materialien, Experimente…?

Und zum dritten muss die Frage des „Warum?“ erlaubt sein. Ist es überhaupt erstrebenswert, sinnvoll oder notwendig, „mehr“ Naturwissenschaften in den Schulen zu etablieren? Im Folgenden wird die Frage der Stellung naturwissenschaftlicher Fächer im Schulsystem aus österreich- und europazentrierter Sicht erörtert, wobei die meisten Trends durchaus global vergleichbar sind.

Der War-Zustand#

Längerfristig gesehen sind die Naturwissenschaften erst mit Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt in die Schulen gekommen. Es entstanden auch Schultypen mit entsprechenden Schwerpunkten, etwa Realschulen, Realgymnasien oder technische Schulen. Sie haben sich im 20. Jahrhundert im Schulsystem immer stärker verankert, angetrieben auch durch die beschleunigte Entwicklung von Technik und Wissenschaft, die immer stärker unseren Alltag bestimmen. Dies natürlich auf Kosten geisteswissenschaftlicher und humanistischer Fächer, die gesamte Menge von Unterricht hat sich nicht wesentlich verändert.

Der Ist-Zustand#

Seit der Jahrtausendwende ist dieser Trend ins Stocken geraten. Paradoxerweise stieg die Bedeutung insbesondere der Technik noch weiter an, und mit ihr der Bedarf an entsprechenden Berufen. Die Quantität der Repräsentation in den Schulen stieg keineswegs in dieser Weise, im besten Fall blieb sie gleich, vor allem was die klassischen Fächer wie Biologie, Chemie und Physik betrifft. Die Gründe dafür sind:

Generelle Kürzungen von Unterrichtszeit: #

In Österreich etwa gleich mehrfach, letztlich wohl eher um Lehrerstunden zu sparen als Schülerinnen und Schüler zu entlasten. Ein Absolvent eines Gymnasiums hatte vor 30 Jahren dadurch in Summe um ein ganzes Jahr (ca. 30 Wochenstunden) mehr Unterricht als einer von heute.

Das Eindringen neuer Fächer: #

Hier ist vor allem die Informatik zu nennen, die zusätzlich in den Fächerkanon kommen musste. Dafür wurde aber kein Mehr an Unterricht verordnet, die gesamte Stundenzahl blieb gleich, die Stunden für Informatik musste also von anderen Fächern kommen. Informationstechnologie könnte man jedoch im weiteren Sinn auch zu den naturwissenschaftlichen Gegenständen zählen.

Autonome Schwerpunktsetzungen: #

Gerade in Österreich wurde die Politik verfolgt, keine fixen Jahresstundensätze pro Fach vorzugeben, sondern lediglich Bereiche, innerhalb derer die Schulen autonom verschieben oder auch neue Gegenstände einführen können. Damit wurden tatsächlich in vielen Schulen naturwissenschaftliche Schwerpunkte etabliert („Naturwissenschaftliches Labor“, „Science“…), meist jedoch als Wahlbereich in Konkurrenz zu anderen Schwerpunkten. Hier ist wieder die Informationstechnologie zu nennen, die oft auf diese Weise ins Schulsystem eingeführt werden konnte, aber auch die Sprachen. Bei allen Kürzungen und Verschiebungen ist ein Fach üblicherweise gar nicht berührt worden: Englisch. Seine immense Bedeutung ist anscheinend unumstritten. Die Schwerpunktsetzungen gingen natürlich oft auf Kosten der klassischen naturwissenschaftlichen Fächer, welche dafür Stunden hergeben mussten.

Somit ist in der Summe die Quantität der Naturwissenschaften im weiteren Sinn in etwa gleich geblieben, jene der klassischen Fächer Biologie, Chemie und Physik eher gesunken. Ganz besonders betrifft dies Schultypen außerhalb der Allgemeinbildung. In Österreich wurden etwa in den Handelsakademien (Höhere Wirtschaftliche Schulen) die Naturwissenschaften auf ein absolutes Minimum reduziert, jenseits jeder Sinnhaftigkeit, wenn man vom formalen Erwerb der Studienberechtigung für diese Fächer an den Universitäten absieht.

Probleme und Widersprüche#

Von Seiten der Wirtschaft wird der Fachkräftemangel beklagt, das Fehlen von technisch interessiertem Nachwuchs. Auch an Hochschulen und Universitäten sind naturwissenschaftliche und technische Studienrichtungen weniger beliebt, insbesondere bei Frauen.

Im Alltagsleben lässt sich eine zunehmend unkritische Haltung gegenüber den Wissenschaften konstatieren. Einerseits herrscht eine unreflektierte Gläubigkeit, insbesondere den Segnungen der Technik gegenüber – wer hinterfragt schon die Funktionen eines Smartphones? Zum anderen boomen pseudowissenschaftliche und esoterische Erklärungsmuster, bis hin zu fundamentalistisch-religiösen Glaubenslehren. So kann es zu paradoxen Widersprüchen zwischen wissenschaftsfeindlichen Ideologien kommen, deren Repräsentanten jedoch selbstverständlich die Hervorbringungen eben jener Kultur verwenden, die sie verbal bekämpfen. Eine radikal rückwärtsgerichtete islamische oder andere Glaubenslehre hätte niemals Errungenschaften wie Autos, Flugzeuge oder moderne Kommunikationstechnologien hervorgebracht, keine moderne Medizin, aber auch keine Waffentechnologie. Diese werden aber benutzt, obwohl ihre Wurzeln, die Naturwissenschaften, verleugnet werden.

Einige Beispiele aus der Naturwissenschaft#

PI
Warum ist das Verhältnis des Kreisumfangs und des Durchmessers so eine "eigentümliche" (transzendente) Zahl? Foto:pixabay.com/
Einsteins Formel
Könnte man Masse in Energie umwandeln, hätten wir keinen Energiemangel mehr. Aber bisher können wir durch Atomkraftwerke erst winzige Massenanteile in Energie umsetzen! Foto:pixabay.com
DNA
Die Entschlüsselung der DNA, der Gene aller Lebewesen, und deren Veränderung wird die Welt tiefgreifend verändern! Foto:pixaby-acom

Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität#

Aus den vorangegangenen Argumenten sollte klar werden, dass wir ein Mehr an Naturwissenschaften in den Schulen brauchen. Dies ist auch auf der Ebene der Bildungspolitik weithin bewusst, daher gibt es eine Vielzahl von Aktionen und Maßnahmen, um die Naturwissenschaften für Jugendliche attraktiver zu machen. Die Aktionen scheinen engagiert und bunt, aber kaum koordiniert und zielgerichtet, was sich durch alle europäischen Länder zieht. Projekte, Wettbewerbe, Shows, Festivals, dies alles zeigt eher unterhaltungszentrierte Zugänge abseits des klassischen Unterrichts, der daneben noch langweiliger erscheinen muss. Die verbreitete pädagogische Richtung der Öffnung von Unterricht, bei den Naturwissenschaften etwa in Form des sogenannten „Forschenden Lernens“, hat bisher kaum irgendeine empirische Bestätigung ihrer Wirksamkeit nachweisen können. Ihre Zugangsweise steht auch im Kontrast zur Praxis im tertiären Sektor sowie in der Berufsbildung, wo es meist straff und zielorientiert zur Sache geht. Es scheint also, dass viele Maßnahmen zur Förderung der Attraktivität der Naturwissenschaften sowie offene didaktische Zugänge im Unterricht zwar kurzzeitig Freude und Motivation steigern können, langfristig aber keinerlei Abhilfe bezüglich der genannten Probleme bewirken.

Fokus auf die Qualität#

Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass der Unterricht zurück zur vergangenen (und oft auch noch gegenwärtigen) Zentriertheit an der Lehrkraft und am „Stoff“ gehen soll, zurück etwa zum berüchtigten formellastigen Frontalunterricht in der Physik, einer Art „Vorlesung für Arme“. Diese Art des Unterrichtens hat sich in einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen als unwirksam erwiesen, sie spaltet zwischen wenigen Experten und vielen überforderten Laien, die sich in der Folge ganz von den Naturwissenschaften abwenden und eben das beschriebene Szenario der geringen Anzahl einschlägigen Nachwuchses und der hohen Zahl an Anfälligen für grenzwissenschaftlichen Unsinn zur Folge hat. Dabei zeigen die Naturwissenschaftsdidaktiken schon seit einigen Jahrzehnten, wie es gehen kann. Letztlich kommt es nicht auf äußere Strukturen von Unterricht an, auf Organisationsformen oder Methoden – es geht um die bewusste zielgerichtete Steigerung der Qualität im Kleinen, im Lernprozess, in der unmittelbaren Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden am fachlichen Inhalt. Diese baut auf zwei fundamentale Säulen:

Auf der einen Seite steht die radikale Besinnung auf das Elementare, auf das Fundamentale, auf jene Aspekte, die am wichtigsten sind, die Jeder und Jede wissen und verstehen soll. Dazu gehören nicht nur Inhalte aus den Naturwissenschaften, sondern auch ihre Methodiken und Denkweisen. Nur wenn wir diese verständlich machen, sind wir etwa vor einer Verwechslung von Astronomie mit Astrologie gefeit, oder wir erkennen die Unwissenschaftlichkeit etwa der Homöopathie, ohne diese jedoch für den Einzelnen zu verdammen. Das Elementare ist außerdem eingebettet in eine Orientierung an Kompetenzen, also weg vom Input von Lehrstoff hin zu dem, was Jugendliche nachhaltig wissen, verstehen und anwenden können.

Auf der anderen Seite steht der genauso radikale Blick auf das lernende Subjekt. Nur wenn wir auf dessen Vorstellungen, Voraussetzungen und Einstellungen eingehen, können wir nachhaltiges Lernen erreichen, ansonsten bleibt das Vermittelte immer nur oberflächlich angelernt. Lehrkräfte müssen das zu Lernende mit den Augen ihrer Schüler sehen, John Hattie nennt das „Visible Learning“.

Fazit#

Zugegeben, dieser Weg ist nicht der leichtere. Einfacher wäre es, zusätzliche Stunden zu fordern, oder attraktive Inhalte, Methoden oder Medien zu vermehren. Was natürlich nicht heißen soll, dass dies nicht geschehen soll, aber: Letztlich geht es beim „Mehr“ um ein Mehr an Qualität, und hier kommen wir nicht um grundsätzliche didaktische Überlegungen und Anstrengungen herum. Das Mehr an Qualität betrifft in erster Linie die Lehrkräfte, es geht also um eine Verbesserung der Aus- und Weiterbildung. Gerade hier werden Ressourcen benötigt, hier geht es letztlich auch ums Geld. Damit verbunden ist die Sicherung entsprechender Rahmenbedingungen an Universitäten und Hochschulen, personell und materiell, auch das kostet. Und nicht zuletzt geht es um die Verbesserung der Rahmenbedingungen in den Schulen selbst, wobei auch hier der Blick nicht nur auf zeitliche, räumliche und materielle Ressourcen gerichtet sein darf (Quantität), sondern auf lernförderliche Atmosphäre, Freude, Begeisterung, gegenseitigen Respekt und Verständnis.

Weiterführende Informationen#

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