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Österreichischer Staatspreis für europäische Literatur#

(Ergänzung 2023 vo Kurt Hengl, siehe auch NID Version

Dieser Preis wurde 1964 vom damals auch für kulturelle Angelegenheiten zuständigen Bundesminister für Unterricht als „Nikolaus Lenau Preis“ gestiftet und 1965 in den heutigen Namen umbenannt; er wird jährlich für das literarische Gesamtwerk eines europäischen Autors oder einer Autorin verliehen, das international besondere Beachtung gefunden hat, was durch Übersetzungen dokumentiert sein muss; das Werk muss auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen. Grundlage der Verleihung bildet das Votum einer wechselnden, weisungsfreien Jury, für den Preis 2023: Anna Kim, Anette Knoch, Norbert Mayer, Teresa Präauer und Robert Renk. Die Verleihung des Preises, der mit 25.000 Euro dotiert ist, findet traditionell im Rahmen eines Festaktes an der Mozarteum-Universität durch die Staatssekretärin für Kunst und Kultur im zeitlichen Rahmen der Salzburger Festspiele statt.

Preisträgerin 2023:#

* Marie NDiaye (Frankreich) #

Marie NDiaye|© M. Siebinger
Marie NDiaye|© M. Siebinger
Die österreichische Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Magistra Andrea Mayer, überreichte den Preis mit folgenden Worten: „Ich freue mich, dass heute Marie NDiaye diesen Preis erhält, zählt sie doch seit vielen Jahren zu den unangefochtenen Größen der Gegenwartsliteratur“, so Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer. „Wer denkt, es sei alles in bester Ordnung in unserer Wohlstandsgesellschaft, der irrt. Er muss nur ein Buch unserer Preisträgerin aufschlagen und weiß, dass vieles im Argen liegt. Der Glaube, dass die Ehe oder Familie ein Ort der Geborgenheit und Sicherheit sei, gerät dabei rasch ins Wanken. Denn im Privaten, im eigenen Heim nämlich, wohnt das Unheimliche, Gefährliche, ja Tödliche. Auch dort lebt und leidet man unter den diffizilen Formen der Ausgrenzung, Unterdrückung und sozialen Gewalt. Marie NDiayes Bücher sind komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen. Heute ehren wir die unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung: Marie NDiaye, eine französische, eine europäische Autorin. Ich gratuliere Marie NDiaye herzlich zum diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

In ihrer Laudatio verwies Anne-Catherine Simon auf Marie NDiayes Werke: „Ich persönlich kenne keine Autorin und keinen Autor in der Gegenwartsliteratur, die die Abgründigkeit sozialer und familiärer Abhängigkeitsverhältnisse so meisterhaft zu zeichnen verstünde wie Marie NDiaye. Ihre Romane sind Beziehungsromane von einer Radikalität sondergleichen, allerdings nicht Beziehungsromane, wie man sie gemeinhin versteht; Liebesbeziehungen, Affären, Ehen sind in ihren Geschichten eher nebensächlich. Viel häufiger nistet die Fäulnis im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und in einer weiteren Beziehungskonstellation, die wir zu Unrecht glauben, aus unserer Gesellschaft verbannt zu haben: jener zwischen Herr bzw. Herrin und Diener bzw. Dienerin. Man findet sie in ihren Erzählungen, aber auch in ihrem jüngsten Roman, ‚Die Rache ist mein‘, ‚La vengeance m’appartient‘, in Form der Anwältin Susane und ihrer aus Mauritius stammenden Hausgehilfin Sharon, um deren Aufenthaltsgenehmigung sich Susane bemüht. Manchmal bleiben diese Beziehungen untergründig bedrohlich, oft führen sie zu

Staatssekretärin Mayer und Marie NDiaye |©BMKÖS
Staatssekretärin Mayer und Marie NDiaye |©BMKÖS
Brutalitäten bis an die Grenzen des Erträglichen. Jedem ist hier fast alles zuzutrauen, schon gar, wenn es Eltern sind. Kinder werden einfach durch andere ersetzt, verkauft oder mit Tieren verwechselt. Selbst die liebendste Mutter kann sich schlagartig in eine Frau verwandeln, die ihr Kind zwischen Ratten und faulenden Guaven dem Tod überlässt. Doch so verstörend man das alles finden mag, das Verstörendste in ihrem Werk ist damit immer noch nicht erfasst. Ich sehe es in der Radikalität, mit der Marie NDiaye das Individuum als Beziehungswesen zeichnet. So sehr ist es von seinen Beziehungen definiert, dass es unter der Ambivalenz und Instabilität dieser Beziehungen zerbröseln muss. Es ist typisch für NDiayes Figuren, dass ihre Identität instabil ist, sich oft ihre Konturen aufzulösen scheinen. Sie verhalten sich schlagartig völlig anders als davor, wechseln die Rolle oder ihren Namen, oder plötzlich trägt eine andere Figur ihren Namen. Sie erkennen andere oder sich selbst nicht klar wieder, wissen selbst nicht genau, wer – inklusive ihnen selbst – was getan hat, wer wie mit wem verbunden ist.“

Die Jurybegründung:

Marie NDiaye kann zurecht als Star der französischen Gegenwartsliteratur ]bezeichnet werden. Ihre Wirkung reicht jedoch weit darüber hinaus. Sie hat Europa wörtlich genommen erfahren, lebte mit ihrer Familie auch viele Jahre in Spanien, Italien, den Niederlanden und Deutschland. Es dürften prägende Aufenthalte gewesen sein, wie man ihren Texten entnehmen kann. Bereits als Teenager veröffentlichte sie 1985 ihren ersten Roman. Seither hat sie eine Fülle an Werken geschaffen, vor allem Prosa, aber auch Dramen, Drehbücher und Essays, die immer wieder bestätigen: Sie gehört längst schon zu den Besten unserer Zeit. Diese Autorin ist stilistisch brillant, eine Meisterin der Figurenzeichnung. Sie schlägt ihr Publikum mit raffinierten Erzählweisen in Bann, lässt immer wieder Abgründe erahnen. Manche ihrer Texte lesen sich wie Horror-Thriller. Entfremdung, familiäre Beklemmungen und entsprechende Ausbruchversuche sind wiederkehrende Motive bei ihr. Aus diversen Blickwinkeln sieht man den Kontinent und beginnt tiefgehende Verschiebungen zu ahnen. In den wunderbaren Büchern dieser Tochter einer Französin und eines Senegalesen spielt Afrika ebenfalls eine kaum zu unterschätzende Rolle. Auch aus dieser Perspektive erschließt sich ihren Leserinnen und Lesern Europa und stellt es in einen größeren Zusammenhang.

Bisherige Preisträgerinnen und Preisträger:#

  • 2022 Ali Smith (Großbritannien)
  • 2021 László Krasznahorkai (Ungarn)
  • 2020 Drago Jancar (Slowenien)
  • 2019 Michel Houellebecq (Frankreich)
  • 2018 Zadie Smith (Großbritannien)
  • 2017 Karl Ove Knausgard (Norwegen)
  • 2016 Andrzey Stasink (Polen)
  • 2015 Mircea Càrtàrisca (Rumänien)
  • 2014 Ljudmila Jewgenjewna Ulizkaja (Rußland)
  • 2013 John Banville (Irland)
  • 2012 Patrick Modiano (Frankreich)
  • 2011 Javier Marías (Spanien)
  • 2010 Paul Nizon (Schweiz)
  • 2009 Per Olov Enquist (Schweden)
  • 2008 Agota Kristof (Schweiz)
  • 2007 A. L. Kennedy (Großbritannien)
  • 2006 Jorge Semprún (Spanien)
  • 2005 Claudio Magris (Italien)
  • 2004 Julian Barnes (Großbritannien)
  • 2003 Cees Nooteboom (Niederlande)
  • 2002 Christoph Hein (Deutschland)
  • 2001 Umberto Eco (Italien)
  • 2000 António Lobo Antunes (Portugal)
  • 1999 Péter Esterházy (Ungarn)
  • 1998 Dubravka Ugrešic (Kroatien)
  • 1997 Antonio Tabucchi (Italien)
  • 1996 Jürg Laederach (Schweiz)
  • 1995 Aleksandar Tišma (Jugoslawien)
  • 1994 Inger Christensen (Dänemark)
  • 1993 Tschynggys Aitmatov (Kirgisien)
  • 1992 Salman Rushdie (Großbritannien)
  • 1991 Péter Nádas (Ungarn)
  • 1990 Helmut Heißenbüttel (Deutschland)
  • 1989 Marguerite Duras (Frankreich)
  • 1988 Andrzej Szczypiorski (Polen)
  • 1987 Milan Kundera (Tschechien)
  • 1986 Giorgio Manganelli (Italien)
  • 1985 Stanisław Lem (Polen)
  • 1984 Christa Wolf (DDR)
  • 1983 Friedrich Dürrenmatt (Schweiz)
  • 1982 Tadeusz Rózewicz (Polen)
  • 1981 Doris Lessing (Großbritannien)
  • 1980 Sarah Kirsch (BRD)
  • 1979 Fulvio Tomizza (Italien)
  • 1978 Simone de Beauvoir (Frankreich)
  • 1977 Pavel Kohout (Tschechoslowakei)
  • 1976 Italo Calvino (Italien)
  • 1975 Miroslav Krleža (Jugoslawien)
  • 1974 Sándor Weöres (Ungarn)
  • 1973 Harold Pinter (Großbritannien)
  • 1972 Sławomir Mrożek (Polen)
  • 1971 Peter Huchel (BRD)
  • 1970 Eugène Ionesco (Frankreich)
  • 1969 keine Vergabe
  • 1968 Václav Havel (Tschechoslowakei)
  • 1967 Vasko Popa (Jugoslawien)
  • 1966 Wystan Hugh Auden (Großbritannien)
  • 1965 Zbigniew Herbert (Polen)

Aktualisierung: K. Hengl