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vom 23.04.2022, aktuelle Version,

Narrenturm

Der Narrenturm im Jahr 2006
Der Narrenturm in saniertem Zustand (Mai 2019)

Der Narrenturm im Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien wurde 1784 als erste Psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas gebaut. Heute beherbergt der Turm das Pathologisch-anatomische Bundesmuseum, das 2012 in das Naturhistorische Museum Wien eingegliedert wurde.

Gebäude

Der Narrenturm um 1895
Reste eines der ältesten Blitzableiter in Wien am Narrenturm

Das Gebäude wurde 1784 unter Kaiser Joseph II. durch Josef Gerl errichtet. Es handelte sich um einen fünfstöckigen Rundbau mit 28 Räumen pro Etage, schmalen Fenstern und einem in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Mitteltrakt. Insgesamt gab es für die Patienten (Insassen) 139 Einzelzellen. Jede Zelle misst etwa 13 Quadratmeter und ist vom runden Gang aus zu betreten. Im Mitteltrakt waren die Wärter untergebracht, an einer Seite wurde der Stiegenlauf gebaut, sodass ein großer und ein kleiner Hof entstanden. Joseph II. hatte zudem auf seinen Reisen nach Frankreich Gelegenheit, unterschiedliche Einrichtungen zu studieren. Bei vielen Erkenntnissen aus dem 20. und 21. Jahrhundert wird die Errichtung des Narrenturms als ein Zeugnis einer neuen Haltung gegenüber Geisteskranken gesehen; er soll den Beginn der Ausgrenzung von Geisteskranken aus der Gesellschaft darstellen und soll sie von der gesellschaftlichen Kategorie der „Armen“ trennen.[1] Dennoch stellte die Errichtung des Narrenturms in Anbetracht des historischen und gesellschaftlichen Kontextes einen Fortschritt dar – es war der Wandel zu einer Anerkennung eines medizinisch relevanten Leidens und ein Versuch der Fürsorge und Heilung.[2]

Die Zellen hatten bei der Errichtung keine Türen und das Gebäude war nicht an das Kanalnetz angeschlossen. Kurz nach Inbetriebnahme wurden Zellentüren eingebaut und der Turm bekam einen Kanalzugang. Ein Reisender inspizierte 1789, wenige Jahre nach der Eröffnung, auch diese „Hauptsehenswürdigkeit“ bei seinem Wienbesuch:

„Ein großer Theil der Unglücklichen, hier Eingesperrten, sind Soldaten. Viele sind nicht in die Behältnisse eingekerkert, sondern sitzen und laufen in den Gängen umher. Manche liegen an Ketten in ihren Kerkern, und sind an die Wände angeschlossen.“

Zehn Jahre später galt der Turm infolge der Neuerungen in der Therapie von „Geisteskranken“ bereits als völlig überholt, da nur ein geringer Teil der Geisteskranken – dies gilt als Gesamttrend für das 18. und 19. Jahrhundert – sozial genau abgestuft und unterschiedlich behandelt, hospitalisiert und versorgt werden konnte; er wurde allerdings bis 1869 mit Patienten belegt. Von seiner Rundform leitet sich die in Wien übliche umgangssprachliche Bezeichnung Gugelhupf für Irrenhäuser bzw. psychiatrische Kliniken ab. Die Annahme, dass der Narrenturm eine Umsetzung der Idee des Panoptikums von Jeremy Bentham sei, trifft nicht zu, da die Zellen nicht von einem Zentrum aus kontrollierbar sind.

1869 wurde die Anstalt im Narrenturm geschlossen.[3]

Blitzfangeinrichtung

Bereits am ältesten Modell des Narrenturms findet sich am Dachfirst ein Blitzableiter oder „Blitzfänger“. Zwei seiner Halterungen im Innenhof existieren noch mit Stand 2017. Josef II. waren die Versuche von Prokop Diviš bekannt, welchem es vor allem um eine vermutete Heilkraft von Strömen ging, aber auch um die Fernhaltung von Gewittern mithilfe von „meteorologischen Maschinen“. Ob die Einrichtung im Narrenturm als ein Blitzfänger zur Behandlung der Insassen oder bereits als ein Blitzableiter im heutigen Sinn diente, ist umstritten.

Museum

Ausstellungsräume mit Schaukästen

Das Museum wurde 1796 unter Kaiser Franz II. als Museum des Pathologisch-anatomischen Institutes gegründet. Die Sammlung befindet sich seit 1971 im Narrenturm. Auf Betreiben des Pathologen Karl Alfons Portele wechselte das Museum 1974 von diesem Universitätsinstitut in die Obhut des Unterrichtsministeriums. Die heutige Bezeichnung ist Pathologisch-anatomisches Bundesmuseum. Als die anderen Bundesmuseen auf Grund des Bundesmuseen-Gesetzes bis 2003 als wissenschaftliche Anstalten öffentlichen Rechts in die so genannte Vollrechtsfähigkeit entlassen, d. h. aus der Bundesverwaltung ausgegliedert wurden, war das Museum zu klein, um allein daraus eine eigene wissenschaftliche Anstalt zu bilden. Nach längeren Überlegungen, in welcher Kombination mit anderen Sammlungen die Ausgliederung erreichbar wäre, wurde das letzte noch direkt vom Ministerium verwaltete Bundesmuseum im Herbst 2011 per 1. Jänner 2012 mit Bundesgesetz in die wissenschaftliche Anstalt Naturhistorisches Museum Wien (NHM) eingegliedert.[4]

Sammlung

Seit Beginn der Sammlungstätigkeit standen vor allem Feucht- und Trockenpräparate im Fokus. Ab 1974 kamen durch Karl Portele weitere Sammlungsbestände aus Österreich und Deutschland hinzu, darunter mehrere Moulagensammlungen, etwa von Carl Henning. 1977 wurde eine thematisch passende Gerätesammlung angelegt. Heute besteht die Pathologisch-anatomische Sammlung im Narrenturm aus rund 49.000 Objekten und gilt als weltweit größte Sammlung ihrer Art.[3]

Elektro-pathologische Sammlung

Im Narrenturm sind auch Teile des ehemaligen Elektro-pathologischen Museums des Mediziners Stefan Jellinek untergebracht. Dieses Museum war von Jellinek im Jahr 1936 eröffnet worden, ehe er 1939 als Jude das Land verlassen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam er seine Sammlung zurück. Sein Mitarbeiter Franz Maresch organisierte die Ausstellung nach dem Tod des Gründers im Jahr 1968 neu. In den 1980er-Jahren wurde ein großer Teil der Sammlung vom Technischen Museum übernommen, während die tierischen und menschlichen Feuchtpräparate dem Pathologisch-anatomischen Museum übergeben wurden.[5]

Siehe auch

Literatur

  • Alfred Stohl: Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft. Böhlau Verlag, Wien 2000, ISBN 3-205-99207-5 (online).
  • Ernst Hausner: Das pathologisch-anatomische Bundesmuseum im Narrenturm des alten Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Edition Hausner, Wien 1998, ISBN 3-901141-27-8.
  • Gerhard Roth: Die Archive des Schweigens. Band 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11407-1, S. 110–130: Der Narrenturm.
  • Johann Werfring: Nichts Menschliches sei Menschen fremd Artikel in der „Wiener Zeitung“ vom 23. Februar 2017, Beilage „ProgrammPunkte“, S. 7.
Commons: Narrenturm  – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Scheutz, Universität Wien, Vorlesung Geschichte der Armut und des Bettels in der Neuzeit (Memento vom 29. Januar 2010 im Internet Archive)
  2. Vom „Narrenturm“ zum Steinhof: Die Entwicklung der Wiener „Irrenpflege“. Gedenkstätte Steinhof, ein Projekt des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Abgerufen am 1. März 2018.
  3. 1 2 NHM: Pathologisch-anatomische Sammlung im Narrenturm
  4. Budgetbegleitgesetz 2012, BGBl. I Nr. 112 / 2011
  5. Eröffnung der Elektro-pathologischen Sammlung im Wiener Narrenturm vom 12. Februar 2010 (Memento vom 8. Oktober 2011 im Internet Archive)