Masaryk, der in Österreich unbekannte Präsident#
Gabriele MatznerDer Band ist das Ergebnis des eintägigen »Masaryk-Symposiums«, das auf Initiative des Publizisten und Medienvvissenschaftlers Peter Diem am 22. Juni 2017 in Wien stattfand. Er enthält Darlegungen tschechischer und österreichischer Experten zu Werdegang, Wirken, Bedeutung, Interpretation und Nachruhm des einflussreichen Wissenschaftlers, aufgeklärten Patrioten, geschickten und menschlich schwierigen Politikers und späteren tschechischen Staatsgründers. Kaum überraschend tritt dabei zutage, dass das Interesse für und Wissen um Masaryk auf österreichischer Seite vergleichsweise äußerst bescheiden ist, während auf tschechischer, ja insbesondere slowakischer Seite, zumindest in gebildeten Kreisen bisweilen nachgerade ein »Kult« samt Legenden um diesen »Vater«, diese integrierende, heldenhafte Symbolfigur betrieben wird. Vor allem für österreichische Leser eröffnen sich ungewohnte Einsichten, aber auch Fragen, die im Rahmen dieses Symposiums nur erst einmal aufgeworfen werden konnten, wie beispielsweise die nach einer Außen- und Nationalitätenpolitik, die vielleicht Tschechien vor Nazi-Deutschland besser geschützt hätte.
Tn einem weiteren lesenswerten Teil des Konferenzbandes geht es um das offenbar langwierige Projekt eines »Gemeinsamen Österre ichisch-Tschechischen Geschichtsbuches«, das schon vor mehr als 20 Jahren vorgeschlagen wurde und nunmehr, 2018, dank der »Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe« (SKÖTH) samt einer Kurzfassung und Lehrmaterialien tatsächlich publiziert worden sollte. Es soll u.a. dazu dienen, schon auf Schulebene Ignoranz und Misstrauen zu vermindern, historische Entwicklungen auch mit den Augen des jeweils anderen zu begreifen und die wechselseitigen Klischees als solche zu entlarven. Was diese betrifft, gibt die als Vorarbeit zu später geplanten repräsentativen Befragungen abgebildete »qualitative Online-Be- fragung« des »Austria-Forums« von Peter Diem zumindest Anhaltspunkte. Demnach bewerten Tschechen etwa Österreich und seine Bewohner höher als Österreicher Tschechien, sind aber auch überzeugt, dass Österreicher ihnen gegenüber überheblich und/oder desinteressiert sind. Konfliktstoff lieferten und liefern insbesondere die Vertreibungen nach 1945 und die österreichische AKW-Politik.
Im Anhang, der neben Kurzbiographien der aktiven Konferenzteilnehmer dankenswerterweise auch zahlreiche Literaturhinweise enthält, setzt sich der österreichische Publizist Wolfgang Bahr etwas ausführlicher mit dem Inhalt rezenter österreichischer Schulbücher über Tschechien auseinander. Er stellt große, bisweilen bedenkliche Defizite fest, die den »weitgehenden Defiziten im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung« entsprechen. Für tschechische Geschichte und tschechisches Selbstverständnis wichtige Ereignisse (beispielsweise die Schlacht am Weißen Berg, 1648) und Persönlichkeiten (beispielsweise der »Volkskönig« Georg von Podiebrad) kommen in diesen Büchern nicht, kaum oder gravierend anders vor. Während das Münchner Abkommen 1938 und die Vertreibungen nach 1945 breiten Raum einnehmen, sei von einem Schuldbekenntnis der Deutschen und Österreicher für die Ereignisse der damaligen Zeit »kaum wo die Rede«. Während der berühmte Ausspruch Palackys, man müsse den Kaiserstaat erfinden, wenn es ihn noch nicht gäbe, in diesen Büchern vorkommt, fehlt jener desselben Politikers, wonach die Tschechen vor Österreich da waren und auch nach ihm da sein würden. Auch Václav Havel, der an sich in eigenen Wunden »noch immer in erstaunlichem Ausmaß«.
Jedenfalls erfährt der Leser, die Leserin dieses informativen Bandes vieles, das hartnäckige Wissenslücken füllen, Klischees ins Wanken bringen und jedenfalls auf diesen wichtigen Nachbarn Österreichs neugierig machen könnte und sollte. Nicht zuletzt würden mehr Interesse, Wissen und Verständnis jenseits von Klischees und vererbten Ressentiments uns helfen zu verstehen, warum die Menschen in diesen Nachbarländern scheinbar so anders »ticken« (und warum sie Österreich wohl kaum in der Visegrad-Gruppe sehen würden wollen).
Eine Fortsetzung wäre durchaus wünschenswert.
Tomáš G. Masaryk.
Vom Reichsratsabgeordneten zum Gründer der Tschechoslowakischen Republik.
Dr. Peter Diem (Hg.), Austria-Forum Dokumente,
plattxform HISTORIA 2018.