Pieter M. Judson #
* 1956, Ort, Utrecht
Hochschullehrer
Judson ist Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, nachdem er vorher am Swarthmore College in Swarthmore in Pennsylvania in den USA gelehrt hatte.
Judsons Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind unter anderen Nationalitätenkonflikte, revolutionäre soziale Bewegungen und Gegenbewegungen in verschiedenen Gesellschaften. Ferner befasst er sich mit Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander im Wien des Fin-de-siècle.
Werke (Auswahl) #
- Exclusive Revolutionaries: Liberal Politics, Social Experience, and National Identity in the Austrian Empire 1848–1994. University of Michigan Press, Ann Arbor, Michigan, USA 1996, ISBN 0-472-10740-2.
- Wien brennt. Die Revolution 1848 und ihr liberales Erbe. Aus dem Englischen übertragen von Norbert Schürer. Böhlau, Wien/ Köln/ Weimar 1998, ISBN 3-205-98844-2.
- mit Marsha L. Rozenblit: Constructing Nationalities in East Central Europe. Berghan Books, New York City 2004, ISBN 1-57181-175-3.
- The Habsburg Empire. A New History. The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts)/ London 2016, ISBN 978-0-674-04776-1.
- deutsch: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740–1918. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-70853-3.
Sein oben genanntes Werk ist für Österreich sehr wichtig. Im folgenden daher eine ausführliche Rezension:
Pieter M. Judson: Habsburg, München 2017#
Judson sucht in seinem umfassenden Werk ein „großformatiges alternatives Narrativ“ (30) gegen den bisherigen Trend, „das Habsburgerreich zu pathologisieren, es aufgrund innerer Nationalitäten-konflikte am Rande des Abgrunds taumelnd und kurz vor dem Kollaps darzustellen“ (27).Die Habsburger agierten, so Judson, beim Aufbau ihrer Reiches bemerkenswert kreativ und flexibel, auch im Sinne von Kompromissbereitschaft. Sie suchten bereits im 18. Jhdt. die Unterstützung ver-schiedener gesellschaftlicher Gruppen (Bauern, gebildeter Mittelstand) und schufen schon vor 1789 ein Staatsbürgerschaftsmodell, das allen Untertanen gleiche Rechte und Pflichten in Aussicht stellte (20).
Die nationalen Differenzen bestimmten keinesfalls entscheidend die Politik Habsburgs und führten nicht dazu, dass die Geschichte des Reiches eine unausweichliche – tragische – Entwicklung nehmen musste (18). Die Vorstellungen von nationaler Identität und Reich waren aufeinander angewiesen (24). Auch die letzten gr. Studien rückten von der herkömmlichen Annahme bezüglich der primären Bedeutung der nationalen Identität ab (28).
Die administrativen und institutionellen Experimente, beginnend unter Maria Theresia, reichten von der Verringerung der Fronarbeit für die Bauern bis zur Einführung einer Steuerpflicht für den Adel, die dem Reich in manchen Regionen nachhaltige Unterstützung vonseiten der Bauernschaft einbrachten (19). Lokale Abhängigkeitsverhältnisse wurden durch die neuen Bindungen an den Zentralstaat ersetzt (35). Für viele Österreicher war das Reich eine alternative Quelle symbolischer und realer Macht, die sich auf die Macht der einzelnen örtlichen Eliten mäßigend auswirken konnte (16, 61). So bedeutete „Absolutismus“ die Weigerung, die Macht mit dem Adel zu teilen. (49). Auf den Weg zu einer politischen Einheit gelangte das Reich durch die Pragmatische Sanktion. Im Bemühen um den Aufbau eines Staates hingen jetzt die Besitzungen der Habsburger geografisch enger zusammen (43).
Im 18. Jhdt. brachten die Habsburger auch sozialpolitische Maßnahmen auf den Weg: allgemeiner Grundschulunterricht in der jeweiligen Volkssprache mit zunehmender Alphabetisierung, eine landesweite Verwaltung, ein unabhängiges Gerichtswesen und die Förderung des freien Handels (21). So war in der ersten Hälfte des 19.Jhdts. Triest zu einem der zehn bedeutendsten Häfen der Welt aufgestiegen (154). Örtliche Machthaber vernachlässigten jedoch die Schulen, um die Land-bevölkerung in Unmündigkeit zu halten (62).
1748 wurden die Steuerbefreiungen für Adel und Klerus in den böhmischen und österr. Ländern abgeschafft. (53). Zu geringe Steuereinnahmen wegen ökonomischer Ineffizienz veranlassten staat-liche Maßnahmen zur Steigerung der landwirtschaftl. Produktivität (57).
Gleichheit vor dem Gesetz#
Die radikale Neukonzeption des Individuums vom Glied in einer ständischen Hierarchie zu einem Bürger ermöglichte die Gleichstellung vor dem Gesetz (76). Der zunehmende Gebrauch des Wortneuschöpfung “Staatsbürger“ betonte die Gleichheit vor dem Gesetz des Zentralstaats (108). Joseph II. bestand auch auf dem Prinzip der sozialen Gleichbehandlung bei Postenvergabe und Beförderung im Verwaltungsapparat (89). Ebenso erließ er Toleranzedikte für Nichtkatholiken, später auch für Juden (95). Für diese wurden viele Restriktionen aufgehoben (96). In einem Dekret von 1784 fand sich die Anweisung: „Jene Ausländer, welche durch volle 10 Jahre sich hier befinden, sind als Inländer zu halten.“ (107)Ungarns erste Zeitung erschien 1705 auf Latein, die erste deutschsprachige folgte 1764; erst 1780 kam eine ungarischsprachige. Dass Zeitungen in den „Volkssprachen“ erschienen, hat mit dem von der Regierung geförderten Grundschulunterricht in der jeweiligen Regionalsprache zu tun (195). Dadurch, dass in Ungarn der Adel Ungarisch als Amtssprache wählte, öffneten sich tiefe Gräben, denn die Mehrheit der „Ungarn“ verwendete andere Sprachen (201). In Böhmen beherrschten um die Mitte des 19. Jhdt.s deutsche und tschechische Protagonisten beide Sprachen (270). Aufgrund ethnischer oder sprachlicher Kriterien definierte Völker existierten noch gar nicht (275).
Die ungarische Adels-Nation war auf den Schutz der Habsburger vor mögl. Aufständen der Bauern oder einem feindlichen Angriff angewiesen. Als Gegenleistung konnte die Wiener Regierung Gesetze verlangen, die den Bauern mehr Freiheiten und Rechte einräumten (200). Im Sommer 1848 wurde das feudale Abhängigkeitsverhältnis abgeschafft. Das wurde auch nach der Konterrevolution nicht mehr rückgängig gemacht (251). Die meisten Revolutionäre von 1848 lehnten weder den österr. Kaiserstaat an sich noch die Herrschaft der Habsburger ab (außer in Ungarn u. z. T. in Italien) (204). Der Aufstand von 1846 in Krakau scheiterte, weil die Bauern eher auf die kaiserliche Autorität setzten. Von ihr erwarteten sie sich mehr Hilfe als von den polnischen Nationalisten. Diese repräsentierten eher gesellschaftlich privilegierte Gruppen, die vor allem für sich ein stärkeres Mitspracherecht verlangten. Der status quo, den die Bauern verändern wollten, sollte jedoch erhalten bleiben (205-211). Eine Erhebung in Triest erstickten 1848 italienischsprachige Einwohner, weil sie den Wohlstand der Stadt in Verbindung mit den Handelsbeziehungen zum Rest Österreichs sahen (223).
Sprachenpolitik#
Nach 1848/49 vereinten die Schöpfer des liberalen Imperiums dynamischen Wandel mit autoritärer Kontrolle (282). Die Sprachpolitik hatte eher vereinheitlichende Zentralisierung zum Ziel als Germanisierung (289). Galizische Nationalisten verhöhnten aber habsburgische Beamten aus Böhmen, obwohl diese von zu Haus aus auch häufig Tschechisch sprachen, häufig als „Deutsche“ (290).Der Orientalist Hammer-Purgstall lobte in einem Vortrag vor der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 1853 die Mehrsprachigkeit Österreichs und forderte, dass Beamte die Sprachen der Regionen lernen müssten, in denen sie Dienst taten (310): „Je mehr du die Sprachen des österreichischen Kaiserthums verstehst, desto mehr wirst du ein ganzer Österreicher“ (311). Karl von Czörnig, Statistiker im Handelsministerium, wies 1857 nach, dass jedes Kronland in sich sprachlich und kulturell heterogen war. Keine Sprachgruppe könne ein Kronland als ihre ausschließliche Heimat betrachten (313). Auch deutschsprachige Staatsbürger identifizierten sich eher mit einem einzelnen Kronland als mit einer nationalen Gemeinschaft (331).
Jüdische, orthodoxe, griechisch-katholische und sogar protestantische Untertanen sahen in Kaiser Franz Joseph einen Schutzpatron ihres eigenen Glaubens (304). Er erwies sich in der Folgezeit als der zuverlässigste Verfassungsschützer (337).
Der Ausgleich von 1867 hatte zwei Staaten geschaffen, in denen keine Sprachgruppe in der Mehrheit war (339). Aber die ungarischen Regierungen erließen ethnisch-chauvinistische Maßnahmen (342) zur sprachlichen Ungarisierung der rumänisch, serbisch, slowakisch, ruthenisch, deutsch und jiddisch sprechenden „Ungarn“ (341).
Nationalistische Aktivisten glaubten, dass sich die Menschen eher mit kulturellen Anliegen identifizieren würden als z. B. mit klassenspezifischen Programmen (351). Die genauen Auffassungen von nationaler Eigenständigkeit verdankten sehr viel den Spielräumen, die das Reich für sie geschaffen hatte (352). Anhänger des Reiches versuchten aufzuzeigen, wie die Einheit des Reiches die soziale und wirtschaftl. Funktionsfähigkeit der einzelnen Kulturen verbessert hatte (353). Während Nationalisten einsprachige Schulen bevorzugten, hielten an Mobilität und Aufstieg interessierte Eltern mehrsprachige Erziehung für wünschenswert (378). Bereits um 1890 hatten 40 Prozent aller österreichisch-ungarischen Staatsbürger ihre ursprünglichen Heimatorte und -regionen verlassen (426). Österreichs Oberster Verwaltungsgerichtshof entschied 1884, dass in Gemeinden mit mind. vierzig Schülern einer bestimmten Sprache für diese ein gesonderter Unterricht erteilt werden müsste (397).
Die „Fundamentalartikel“ von 1871 sahen eine weitgehende Autonomie für Böhmen mit den gleich-berechtigten Amtssprachen Tschechisch und Deutsch vor; aber Ungarn verhinderte einen dem „Aus-gleich“ ähnlichen Staats-Status für weitere Länder im Reich (379).
Die zentralistischen Liberalen hielten allerdings ihr Kultur für wertvoller als z. B. die der Tschechen. Wenn diese fließend Deutsch sprachen, so sollten sie doch Deutsche werden (381). Das Identitätsgefühl der deutschen Liberalen war mit dem Empfinden verbunden, das Elite-„Staatsvolk“ Österreichs darzustellen (382). Aber an der 1875 gegründeten Universität in Czernowitz mit Unterrichtssprache Deutsch gab es auch die ersten Lehrstühle für Rumänische und Ukrainische Literatur in ganz Österreich (412 f).
Die Rekruten hatten von 1868 an das Recht auf eine Ausbildung in ihrer eigenen Sprache und durften in dieser miteinander kommunizieren (467). Gegen die Sprachenverordnung von Badeni 1897 mit der Gleichstellung des Tschechischen mit dem Deutschen als Amtssprache demonstrierten Nationalisten auch in Salzburg und Graz, also in Städten, die davon gar nicht betroffen waren (403).
Zu Beginn des 20. Jhdt.s waren nationalist. Ideologien und der Reichsgedanke für die jeweilige innere Stimmigkeit immer mehr aufeinander angewiesen (423). Inmitten eines starken sozialen und techn. Wandels verfestigte sich der Glaube an die Vorteile eines gemeinsamen Reiches (435). Das allgemeine Männerwahlrecht von 1907 und die Wahlergebnisse einschließlich des Erfolges der Sozialdemokraten mit ihrer multinationalen Identität (475) bestätigten die Hoffnungen der Regierung und sogar des Kaisers, überregionale Parteien könnten die nationalistischen Kräfte in Schach halten (479).
Der Pessimismus vom anachronistischen Reich, das zum Untergang verurteilt sei, war schon lange vor dem Krieg unter den militärischen und aristokratischen Eliten weit verbreitet (488). Diese fürchteten, dass die gesellschaftlichen Veränderungen ihre Macht und ihren Einfluss gravierend verändern würden, und glaubten, dass ein Krieg die letzte Möglichkeit böte, die politischen Konflikte zu beseitigen und Österreichs Großmachtstatus zu erhalten (489).
In erster Linie führte ab 1914 das Unvermögen der führenden Militärs und Beamten, die materielle Versorgung zu gewährleisten, zu einer massiven Vertrauens- und Legitimitätskrise (493). Die Unzufriedenheit wurde verstärkt durch die strenge Militärdiktatur (494). Das Militär beging auch den folgenschweren Fehler, alle slawischen Bevölkerungsgruppen ungerechtfertigten Verdächtigungen auszusetzen (504). So haben genaue Recherchen ergeben, dass die Geschichten über Massen-desertionen tschechischer Soldaten jeder Grundlage entbehrten (520). Kaiser Karl beendete 1916 die Militärdiktatur und erließ eine Generalamnestie für alle aus politischen Gründen Inhaftierten (536 f).
Die neuen Nationalstaaten wandten sich nach 1918 zwar von Reich ab, übernahmen aber dessen Gesetze, Verwaltungssysteme und -beamte (555). Sie waren zur Durchsetzung ihrer territorialen Forderungen auf die Loyalität ehemals habsburgischer Militäreinheiten angewiesen (563). Die Bürgerrechte der Angehörigen jener Nationalitäten wurden eingeschränkt, die sich nicht an die neue Leitnation assimilieren ließen (566 f). 75.000 deutschsprachigen Juden aus den Nachfolgestaaten wurde die österr. Staatsbürgerschaft verweigert, weil sie in „rassischer Hinsicht“ nicht als deutsch gelten könnten (567). Das Jahr 1918 markierte keineswegs das Ende der Vielvölkerreiche, sondern vermehrte sie (575).
Heute ist nach Judson die Geschichte des Habsburgerreiches ein florierendes, kreatives und innova-tives Forschungsgebiet, das viel dazu beitragen könnte, sich Themen wie nationaler Identität oder Vielsprachigkeit mit veränderter Blickrichtung anzunähern. Historiker der Habsburgermonarchie haben ihren europäischen Kollegen bereits einiges darüber beigebracht, wie man Begriffe wie „Reich“ und „Nation“ und ihre Bezüge zueinander besser verstehen könnte.
Dietfried Olbrich